Samstag, 5. November 2011

Inescapability.

Melancholia
(Lars von Trier, 2011)

Aufgrund einer nicht ganz unproblematischen Anreise erscheinen Justine (Kirsten Dunst) und Michael (Alexander Skarsgård) zu spät zu ihrer eigenen Hochzeit. Justines Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg), welche maßgeblich an der Planung der Heirat beteiligt ist und dafür gar das Schloss ihres Mannes John (Kiefer Sutherland) zur Verfügung gestellt bekommen hat, ist bei ihrer überfälligen Ankunft stark gereizt und versucht die Prozedur etwas zu beschleunigen. Obwohl Justine mit ihrem Verlobten glücklich wirkt, scheint etwas mit ihr nicht zu stimmen. Sie agiert abweisend, verschließt sich sowohl vor ihrer Verwandtschaft als auch vor ihrem Mann, wodurch der Abend zum Desaster wird. Sie beginnt einen Streit mit ihrem Arbeitgeber, welcher ebenfalls aus der Festlichkeit anwesend ist, und verliert letztlich gar ihren Job. Die geschiedenen Brauteltern tragen ihren Beitrag zur vermasselten Heirat bei, sie führen ihren Ehekrieg vor den Gästen weiter, während John mit Ärger auf die nach Außen unbegründet wirkende Unentschlossenheit seiner Schwägerin reagiert. Die Hochzeit wird zum Reinfall, die Vermählung findet letztlich nicht mehr statt, da sich Michael - wie er Justine erklärt - eine Ehe nicht mehr vorstellen könne. Niemand kann sich anfangs Justines emotionalen Umschwung erklären, einzig der ungewöhnlich hell strahlende Antares im Sternbild des Skorpion fällt als Anomalie auf, die Justines Aufmerksamkeit während des gesamten Abends auf sich zieht und sie scheinbar in ihrem Handeln beeinflusst.

Lars von Trier gelingt es stets eindrucksvoll für Furore zu sorgen, jedoch nicht immer nur cineastisch, wie man spätestens seit seinen Aussagen während der Filmfestspiele von Cannes weiß. Doch abseits seiner umstrittenen Persönlichkeit steht außer Frage, dass sein Werk und dessen Einfluss auf den Film der letzten Jahrzehnte bedeutend ist. Spätestens durch die Mitbegründung des Dogma 95-Manifests, welches bestrebt ist den Realismus im Film stärker zu betonen, zeigte sich sein Einfluss, obgleich er bereits zuvor mit Filmen wie "Element of Crime" (1984) und "Europa" (1991) die Aufmerksamkeit der Kritiker gewonnen hatte. Zum "Enfant terrible" des Kinos wurde Lars von Trier Ende der 90er, als er mit dem graphisch äußerst expliziten "Idioten" (1998) erstmals für einen Skandal sorgte. Fortan sorgte von Trier stets für aufsehenerregende Filme, zuletzt 2009 mit "Antichrist".

"Melancholia" lässt sich innerhalb der von Trier'schen Filmographie fraglos am besten mit "Antichrist" vergleichen, da sich die beiden Filme besonders in puncto Gliederung, Struktur, aber auch bezüglich der Bildsprache sehr ähnlich sind. Auch die Tatsache, dass sich die Handlung in "Melancholia" trotz des opulenten Szenarios auf das Schicksal weniger Menschen begrenzt, trägt Parallelen mit sich, deren Ursprung wohl in von Triers Depressionen wurzeln. Bereits vor der Veröffentlichung der beiden Filme habe der Regisseur unter der Krankheit gelitten, welche er nun in Form seiner Werke zu verarbeiten versuche, so von Trier. Die Depression und Melancholie war schon in "Antichrist" in der Rolle von Charlotte Gainsbourg ein fokaler Punkt, in "Melancholia" findet sich das Motiv nun wesentlich offensichtlicher und in mehrfacher Ausführung wieder.

Wie schon in seinem vorherigen Film verabschiedet von Trier auch bei "Melancholia" im Prolog die Grundsätze der Dogma-Bewegung und inszeniert eine ambige, traumähnliche, ja gar surreale Einleitung zu den wesentlich konventionelleren, anschließenden Teilen, in denen die beiden Hauptdarstellerinnen, Kirsten Dunst und Charlotte Gainsbourg, groß aufspielen dürfen. Doch auch in diesen Teilen spart von Trier nicht mit Metaphern. Besonders die Bezüge zur Malerei lassen großen Raum für Interpretation, so finden sich neben Bezügen zu Albert Dürers "Melencolia I" auch John Everett Millais' "Ophelia" und "Die Jäger im Schnee" von Pieter Bruegel dem Älteren im Film wieder. Um eine Bedeutungsebene wird "Melancholia" auch durch Richard Wagners "Tristan und Isolde" im Soundtrack erweitert, doch alles in allem wirkt der Film dadurch zu überladen. "Melancholia" versucht versteift opulent, üppig zu sein, schießt jedoch stellenweise am Ziel vorbei und wirkt viel eher prätentiös. Auch wenn von Trier es abermals gelingt über einige Passagen eine gewaltige Spannung mit unkonventionellen Mitteln aufzubauen und optisch Eindrucksvolles auf die Leinwand zu bannen, so trivial wirkt gleichzeitig das - im Kino zugegebenermaßen visuell umwerfende - Ende, wenn man es nicht wörtlich nimmt - und darum geht es doch schließlich bei Lars von Trier.

Sonntag, 28. August 2011

The inconceivability of eruptive violence.

Elephant
(Gus Van Sant, 2003)

An einer High School in Portland deutet alles darauf hin, dass ein weitgehend gewöhnlicher Schultag bevorsteht. John (John Robinson) kommt zu spät zur Schule und muss zum Direktor, da sein Vater (Timothy Bottoms) ihn betrunken mit dem Auto dort abzuliefern versucht hat, am Hinweg jedoch den vorprogrammierten Unfall baute. Elias (Elias McConnell) arbeitet weiter an seinem Foto-Portfolio, nimmt dafür Portraitbilder beliebiger Personen auf und verarbeitet diese im schulischen Entwicklungsraum. Die Außenseiterin Michelle (Kristen Hicks) kämpft damit, selbst von ihren Lehrern mit abschätzigen Blicken bedacht zu werden und muss sich rechtfertigen, warum sie im Sportunterricht, anstatt Shorts zu tragen, eine lange Jogginghose anzieht. Nathan (Nathan Tyson) genießt seinen Status als sportliches Aushängeschild der Schule und die damit verbundene Sonderbehandlung, die ihm und seiner Freundin Carrie (Carrie Finklea) zuteil wird, während er den introvertierten Alex (Alex Frost) während der Stunde schikaniert. Nicole (Nicole George), Noelle (Chantelle Chriestenson) und Brittany (Brittany Mountain) himmeln Nathan an und halten lästernde Gespräche über Gott und die Welt, die nur während der Mittagspause pausiert werden, da sie dann gesammelt die Toilette aufsuchen, um kollektiv das soeben zugeführte Mahl oral zu entleeren. In der ganzen Dynamik des Schulalltags kann der Außenseiter Alex als ausgezeichneter Klavierspieler nur die Flucht in die Kunst suchen, auch wenn sein Freund Elias (Elias Deulen) ihm unterstützend beiseite steht und mit Alex kurzerhand einen Plan ausheckt.

In "Elephant" watet Van Sant auf für ihn altbekannten Pfaden, auf bereits vertrautem Terrain. Wie schon in einigen seiner Arbeiten zuvor (und im Grunde allen danach) widmet er sich wieder Charakteren, die damit kämpfen, als Außenseiter nicht in die Gesellschaft zu passen und versuchen aus ihren Rollen auszubrechen. Bereits ein Jahr zuvor hat Van Sant in "Gerry" - seinem vielleicht anspruchsvollsten Film - zwei schweigsame Männer (gespielt von Matt Damon und Casey Affleck) auf eine unfreiwillige Selbstfindungsodyssee durch die Wüste geschickt, ein Film der atmosphärisch - und durchaus auch thematisch - starke Bezüge zu Van Sants "My Own Private Idaho" aus dem Jahre 1993 herstellt. Auch in "Good Will Hunting" (1997), "Paranoid Park" (2007) und "Milk" (2008) stehen gesellschaftliche Außenseiter und deren soziales Umfeld im Fokus. Eine weitere Gemeinsamkeit von "Elephant" und "Gerry" (und natürlich "Milk", der hier allerdings außen Acht gelassen sei) findet sich im Bezug der Filme auf wahre Begebenheiten, wobei sich beide jedoch nur lose daran orientieren. Während "Gerry" in seiner Grundhandlung auf der Geschichte Raffi Kodikians und David Coughlins basiert, verarbeitet Van Sant in "Elephant" ein deutlich brisanteres Ereignis: Das Schulmassaker von Littleton, bei dem 1999 an der Columbine High School dreizehn Menschen von zwei jugendlichen Amokläufern getötet wurden. Doch während es Van Sant in "Gerry" noch gelungen ist der vorliegenden Geschichte eine bedeutungsschwere Komponente hinzuzufügen, verpasst er diese Chance in "Elephant".

Bereits die erste Einstellung des Films spricht unmissverständlich aus, in welche Richtung Van Sants Inszenierung geht. Einem Videospiel gleich verfolgen wir in gleichbleibenden Abstand aus der Vogelperspektive ein fahrendes Auto. So eindrucksvoll konsequent die Kameraarbeit Harris Savides' in "Elephant" auch sein mag, sie vermittelt etwas Deplatziertes und stellt den Bezug zum wohl beliebtesten Begründungsklischee der Amokläufe der letzten Jahrzehnte her: Ego-Shooter. Die Perspektive des Third-Person-Shooters findet sich während des gesamten Films bei allen Figuren wieder, vorzugsweise beim jeweils alleinigen Durchstreifen der Schulkorridore. Es lässt sich argumentieren, dass dieser Bezug gar nicht gewollt ist, und besagte Einstellungen - wie schon in "Gerry" - lediglich die Isolation der einzelnen Figuren betonen sollen (eine Aussage, die sich durch das Paar Nathan und Carrie untermauern ließe, da zwar die Third-Person-Shooter-Perspektive bei ihnen beibehalten wird, sie jedoch zu zweit durch die Gänge waten und somit als Gegenstück zu den restlichen, einsamen Charakteren agieren), allerdings wirkt diese Begründung spätestens in der Szene, in der Elias auf seinem Laptop einen Ego-Shooter spielt, scheinheilig. Die Bezüge auf Videospiele jenes Genres sind in "Elephant" schlicht und einfach zu omnipräsent und zu stereotyp, um effektiv zu funktionieren. Eindrucksvoll bleibt dennoch, wie wundervoll Van Sant und Savides mit langen Einstellungen, sehr konzisen, ruhigen Dialogen und Aufnahmen aufziehender Wolken das Gefühl der Ruhe vor dem Sturm (vor dem Amoklauf) zu vermitteln wissen. 

Man könnte argumentieren, dass die Inszenierung des Films als Videospiel die Psyche der Amokläufer veranschaulichen, und die Unerklärlichkeit und die Unberechenbarkeit einer Tat wie dieser betonen soll, doch Van Sant ist dabei zu inkonsequent, er ist zu mutlos und hindert so "Elephant" daran, einer der wichtigsten Filme des letzten Jahrzehnts zu werden. Zu krampfhaft versucht er gegen Ende doch noch Gründe für die Tat zu finden, zu verbissen etabliert er Alex als den massiv gemobbten, introvertierten Außenseiter. Die innige Beziehung mit Elias schottet Alex noch weiter ab, besonders im gemeinsamen Spielen der Ego-Shooter scheinen sie sich zwischen Realität und Fiktion zu verlieren, wie Alex' Kommentar - "Most importantly, have fun!" - kurz vor der Hinfahrt zur Schule zeigt. Die Absurdität erreicht Van Sant spätestens, als er die beiden angehenden Amokläufer beim Ansehen von Archivaufnahmen aus der NS-Zeit zeigt. Die Szene wird nicht weiter erläutert, Van Sant stellt sie schlicht und einfach in den Raum, und doch ist die Botschaft so deutlich und gleichzeitig so trivial, so geistlos. Die Ironie der gesamten Begründungsversuche findet sich bereits im Titel des Films, welcher sich - so Van Sant - auf eine Parabel des Buddhismus bezieht, in der fünf Blinde einen Elefanten untersuchen und dabei jeweils zu unterschiedlichen Resultaten kommen. Auf den Film angewandt, will Van Sant mit dieser Parabel sagen, dass man beim Suchen nach einer einzigen Begründung für Gewalt alle anderen Erklärungen negiere. Doch seltsamerweise begeht Van Sant genau diesen Fehler, auch wenn er - anstatt eine einzige anzuführen - mehrere Begründungen für die eruptive Gewalt zeigt und koppelt, doch den Mut die kaum vorhandene Begreiflichkeit einer derartigen Tat zu zeigen, bringt er nicht auf, wodurch "Elephant" in seiner Intention und Wirkung scheitert.

Montag, 22. August 2011

Innocence and white flowers...

Letter from an Unknown Woman
Brief einer Unbekannten
(Max Ophüls, 1948)

Im Wien um 1900 kehrt der Konzertpianist Stefan Brand (Louis Jourdan) nur wenige Stunden vor einem bevorstehenden Duell, dessen Anlass ihm schleierhaft ist, nach Hause zurück und bereitet sich auf seine Flucht vor, in der Erwartung der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Vor dem Verlassen der Stadt wird Stefan jedoch ein scheinbar an ihn adressierter, mehrseitiger Brief übergeben, welcher mit den Worten "By the time you read this letter, I may be dead" beginnt. Gefesselt von den ersten Zeilen entschließt sich Stefan den gesamten Brief zu lesen, auch wenn ihm nicht klar wird, wer die Verfasserin der Nachricht sein könnte. Im Brief erzählt die mysteriöse Unbekannte, die den Namen Lisa Berndl (Joan Fontaine) trägt, wie sich später herausstellt, von ihrem Leben, angefangen von ihrer ersten Begegnung mit Stefan, als sie im zarten Alter von fünfzehn noch im selben Gebäude wohnte wie der Pianist. Sie berichtet von ihrer Faszination von Stefans Musik, der sie, im Innenhof des Gebäudes sitzend, regelmäßig gelauscht hat. Es ist der Brief einer verzweifelten Frau, die sich unsterblich in einen Mann verliebt hat. Doch die Vergangenheit der beiden ist dichter verwoben, als es die eröffnenden Zeile des Briefes erahnen lassen, auch wenn Stefan anfangs die Erinnerungen nicht in seinen Kopf zu rufen vermag.

"Letter from an Unknown Woman" basiert auf Stefan Zweigs Novelle "Brief einer Unbekannten" aus dem Jahr 1922 und war die erst zweite Regiearbeit Ophüls' in den USA. Max Ophüls, geboren Maximilian Oppenheimer, war bereits 1933 als Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns aus Deutschland geflohen, zuerst für neun Jahre nach Frankreich, danach, ab 1942, in die USA. Bereits während seiner Zeit in Deutschland und Frankreich machte er sich einen Namen als Regisseur hervorragender Literaturverfilmungen, so brachte er 1931 "Dann schon lieber Lebertran", nach einer Vorlage Erich Kästners, 1933 "Liebelei", nach einem Werk Arthur Schnitzlers und 1938 "Werther", basierend auf Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" auf die Leinwand. "Letter from an Unknown Woman" hebt sich aus den restlichen Hollywood-Filmen Ophüls' deutlich hervor, da er sich auf die Stärken seiner wesentlich sinnlicheren europäischen Filme beruft, denn Ophüls griff mit der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Liebe ein Thema wieder auf, welches sich durch seine frühen Filme bereits als Markenzeichen etabliert hatte. 

Die Tragik im "Letter from an Unknown Woman" findet sich darin, dass die Handlung des Films zum größten Teil in der Vergangenheit spielt, und somit der Eingriff ins Geschehen für den Protagonisten nicht mehr möglich ist. Man fühlt sich durchaus an Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" erinnert, da die Form des Briefromans einen ähnlichen Effekt hervorruft: Das Vergangene bleibt vergangen, es lässt sich nicht mehr ändern. Besonders mit der Einleitung ihres Briefes stellt Lisa in "Letter from an Unknown Woman" klar, dass die Geschichte bereits abgeschlossen ist, sie Stefan jedoch vor ihrem Tod noch ihr Herz ausschütten muss. Durch die einseitige Betrachtungsweise des Geschehenen - immerhin erfahren wir nur Lisas Geschichte - bleibt auch unklar, inwiefern die Ausführungen Lisas der Wahrheit entsprechen. In vielen Momenten scheint sie in einer Traumwelt gelebt zu haben, in einem Märchen, als hätte sie alles durch eine rosarote Brille gesehen.

Besonders eindrucksvoll wirkt auch, wie Ophüls vereinzelt mit Metaphern arbeitet, am deutlichsten wohl im Einsatz der weißen Rose, welche Lisa in einer Szene von Stefan geschenkt bekommt. Auffällig ist, wie sich Lisa in ihrer eignen Erzählung als unschuldiges, beinahe frigides Wesen zeichnet, ein Punkt, welcher durch die einzelne, zerbrechliche, weiße Rose verstärkt wird. Erst in der Kussszene verschwindet die Rose hinter dem Rücken Stefans, sie wird von den Zuseher unsichtbar, und deutet somit den Unschuldsverlust Lisas an. Das Bild und die Bedeutung der weißen Rosen findet sich auch gegen Ende des Films wieder. Und auch wenn Ophüls in einer der Schlussszenen etwas dick aufträgt und dem Zuseher eine Assoziation vorwegnimmt und somit der Schlussszene etwas den Tiefgang nimmt, bleibt "Letter from an Unknown Woman" eine bewegende Kritik an dem (vielleicht stereotypen) männlichen Standpunkt zur Liebe und ihrer damit verbundenen Flüchtigkeit.

Donnerstag, 4. August 2011

Kurzer Zwischenbericht

Aufgrund verhältnismäßg sehr langer Inaktivität meinerseits fühle ich mich momentan verpflichtet ein kleines Update zu geben. Da sich bei mir zurzeit der Stress häuft, kann ich mich nur gelegentlich den Filmen widmen. Da nun der Urlaub vor der Tür steht und ich dank meiner Fachbereichsarbeit dennoch von Kopf bis Fuß mit Arbeit eingedeckt bin, werden längere Artikel wohl  noch etwas auf sich warten lassen, kleinere Besprechungen habe ich mir jedoch fest vorgenommen, wenn auch erst in etwa einer Woche.

Ich bitte deshalb bei allen treuen Lesern um etwas Geduld, es werden jedoch so bald als möglich neue Besprechungen hier erscheinen. Ansonsten wünsche ich euch allen einen schönen Sommer!

Sonntag, 3. Juli 2011

Sticking your Flag in the Ground.

This is England
(Shane Meadows, 2006)

England, 1980er: Nach dem Verlust seines Vaters, welcher im Falklandkrieg gefallen ist, wächst der zwölfjährige Shaun (Thomas Turgoose) unter der Obhut seiner alleinerziehenden Mutter (Jo Hartley) in bescheidenen Verhältnissen auf. In der Schule ist der Bub ein biederer Außenseiter, er wird aufgrund seiner Kleidung und seines Aussehens gehänselt und wird im Zuge eines Witzes über den Tod seines Vaters handgreiflich. Nach der Schlägerei wird Shaun vom Direktor auf den Heimweg geschickt, wo er unerwartet auf eine Bande junger Skinheads stößt. Woody (Joseph Gilgun), der Anführer der Clique, wird augenblicklich auf den mit gesenktem Haupt nach Hause watenden Jungen aufmerksam und bittet ihn, sich zu den Mitgliedern der Bande zu setzen. Langsam gelingt es der Bande, Shaun aufzumuntern, ihn auf andere Gedanken zu bringen und ihn Akzeptanz spüren zu lassen. Die Clique nimmt ihn bei sich auf und zeigt ihm eine Welt der Freundschaft und des Zusammenhalts vollkommen abseits nationalistischer, rechtsradikaler Grundsätze. Sie sind vielmehr eine Gruppe von Freunden als von Skinheads, doch das Klima verändert sich als Combo (Stephen Graham), der einstige Kopf der Bande, nach mehrjährigem Gefängnisaufenthalt zurückkommt und die Truppe aufmischt. Die Clique beginnt an seinen Motivationen und Ansichten zu zerbrechen, Shaun jedoch findet in Combo eine prägende Vaterfigur.

Der 1972 geborene Shane Meadows zählt ohne Frage zu den interessantesten, aufstrebenden Regisseuren Europas. Wie die meisten Helden seiner Filme ist auch Meadows als Außenseiter und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater arbeitete als LKW-Fahrer, während seine Mutter ihr Geld in einem Fish and Chips-Stand verdiente. Aufgrund von kleineren Vergehen und Diebstählen wurde er von der Schule verwiesen bevor er seinen Abschluss machen konnte.  Mit 20 zog er nach Nottingham, wo er gemeinsam mit Ortsansässigen seine ersten Kurzfilme drehte und auf dem College Paddy Considine kennenlernte. 1995 lieferte er seine erste Arbeit fürs Fernsehen ab, ein Jahr später kam mit "Small Time" sein erster Spielfilm. Es folgten unter anderem "A Room for Romeo Brass" (1999), "Once Upon a Time in the Midlands" (2002), "Dead Man's Shoes" (2004) und "This is England" (2006). Auffällig in Meadows Filmen sind häufig starke autobiographische Bezüge. So spielen sie zumeist in ärmeren Teilen der Midlands, in denen Meadows aufgewachsen ist, und handeln von Jugendlichen oder gar Kindern, die mit ihrem Umfeld zu kämpfen haben. Die deutlichsten Bezüge finden sich wohl einerseits in "A Room for Romeo Brass", welcher in der Freundschaft der Hauptfiguren die Beziehung zwischen Meadows und dessen besten Freund Paul Fraser widerspiegelt, und andererseits in "This is England", in dem Meadows seine Zeit in einer Skinheads-Bande verarbeitet. Momentan arbeitet Meadows an der Miniserie "This is England '86", welche vom späteren Leben der Hauptfiguren des Films handelt.

Mit "This is England" ist Shane Meadows eine unheimlich vielschichtige und äußerst kritische Milieustudie gelungen, die besonders von ihrem mutigen Drehbuch, ihren tiefen Charakteren und deren Darstellern lebt. Beeindruckend ist vor allem, wie Meadows hier keine einfache, oberflächliche Kritik am Nationalismus ausübt, sondern wesentlich tiefer bohrt. Er kritisiert die jugendlichen Außenseiter, die als Skinheads ihre Zusammengehörigkeit ausleben, ohne zu realisieren, was sie dadurch verkörpern. Sie sind naiv und werden von der Rückkehr Combos überrumpelt. Jene von ihnen, die der Ideologie und Gehirnwäsche Combos nicht folgen wollen, behalten zwar recht, schaffen es jedoch nicht Shaun, der sich auf der verzweifelten Suche nach Anerkennung von einer fehlenden Vaterfigur befindet, mitzunehmen. Sie lassen ihn zurück, weswegen Combo die ersehnte Vaterfigur für den Jungen spielt. Zwar ist er ein ignoranter, gewaltbereiter, rechtsradikaler Patriot, ein extremer Nationalist eben, gleichzeitig jedoch ist er ein warmherziger Beschützer für Shaun. Er hat selbst mit Problemen zu kämpfen, er scheitert, er ist schlicht und einfach menschlich. Das Ende, insbesondere der Bruch der vierten Wand - zählt wohl zu den aussagekräftigsten Momenten des Kinos der letzten Jahre. Ein knallhartes Fazit zu einer Generation, zu Margaret Thatcher und zu einer gesamten Nation.

Dienstag, 21. Juni 2011

Dealing with a lack of time...

Never Let Me Go
Alles, was wir geben mussten
(Mark Romanek, 2010)

In Rückblicken erinnert sich Kathy (Carey Mulligan) an ihre Kindheit in Hailsham, einem strengen Internat, wo sie mit ihren Freunden Ruth (Keira Knightley) und Tommy (Andrew Garfield) unter der Aufsicht der herrischen Internatsleiterin Miss Emily (Charlotte Rampling) in den 70er Jahren aufgewachsen ist. Hailsham ist damals vor seiner Schließung als gewöhnliche Lehranstalt getarnt worden, die Kinder dort sind unterrichtet, belehrt und bei Vergehen bestraft worden, doch die Aufmerksamkeit, welche die Lehrer den Kindern gewidmet haben, ist keiner Norm entsprechend gewesen. Ohne ihr Mitwissen sind die Kinder anfangs strengstens überwacht worden, auch ihre gesundheitliche Verfassung hat man stets im Auge behalten, die Kinder jedoch ahnten nichts, bis eines Tages die Lehrerin Miss Lucy (Sally Hawkins) ihren Schülern von Schuldgefühlen geplagt erzählt hatte, dass sie kein sehr langes oder erfüllendes Leben führen würden, da ihr Leben nur einem Zweck diene: Der Rettung anderer Menschen. Laut Miss Lucy habe man die Kinder nach dem Vorbild anderer Menschen erschaffen und sie so großgezogen, dass sie als gesunde Organspender ihre Dienste leisten könnten. Die Jahre verstreichen, Kathy verliebt sich in Tommy, dieser jedoch verfällt Ruth, wodurch Beziehungen zwischen den drei Freunden zu Bruch gehen, während sie gleichzeitig versuchen damit fertigzuwerden, einem sicheren, verfrühten Ende entgegenzuschreiten.

Mark Romanek (geboren 1959 in Chicago, Illinois) zeigte schon früh Interesse am Umgang mit der Kamera und belegte nach seinem Besuch der Highschool einen Filmkurs. Im Anschluss daran wechselte er ans Ithaka College in New York, wo er im Fach Fotografie seinen Abschluss machte. Für Brian de Palmas Independent-Film „Home Movies“ (1980) absolvierte er in der Funktion des Regieassistenten seine ersten Schritte auf filmischen Terrain. Fünf Jahre später nahm er erstmals selbst das Ruder in die Hand und inszenierte mit „Static“ (1985) einen Film über einen schrulligen Arbeiter einer Kruzifix-Fabrik, der eine Maschine erfindet, die seines Erachtens Bilder des Himmels zu zeigen vermag. Nachdem die ihm nahestehenden Menschen beim Blick in die Maschine nichts zu erkennen scheinen, entführt der seltsame Erfinder kurzerhand einen von älteren Leuten befahrenen Bus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu lenken. Das Drehbuch des Films entsprang einer Zusammenarbeit Romaneks mit Keith Gordon, welcher auch die Hauptrolle in „Static“ übernahm. Neben Gordon standen auch Amanda Plummer und Bob Gunton – beide damals an den Anfängen ihrer Karrieren – vor der Kamera. Romanek wurde 1986 für den Großen Preis der Jury beim Sundance Film Festival (welcher in jenem Jahr an „Smooth Talk“ [1985] von Joyce Chopra ging) nominiert, wodurch seine Karriere Schwung aufnahm – wenn sie auch gleichzeitig einen neuen Weg einschlug, denn Romanek machte sich in den darauffolgenden Jahren in erster Linie als Musikvideofilmer einen Namen. Keith Richards, Lenny Kravitz, David Bowie, Madonna, Iggy Pop, Nine Inch Nails und Michael Jackson sind nur einige Namen, welche ihre Videos von Romanek inszenieren ließen. Erst 2002 kehrte Romanek mit „One Hour Photo“ (2002), einem Film über einen Foto-Entwickler, welcher zum Stalker wird, zum Spielfilm zurück. 2010 folgte nach weiteren Musikvideos – unter anderem für Johnny Cash, Linkin Park und Coldplay – Romaneks dritter Spielfilm: „Never Let Me Go“ (2010), basierend auf dem gleichnamigen Roman des in Japan geborenen, britischen Autors Kazuo Ishiguro.

„Never Let Me Go“ zeichnet das Bild einer dystopischen Gesellschaft, in der das Schicksal einzelner Menschen bereits vorbestimmt wird, um der Menschheit zu helfen. Der Mensch wird dabei zum Nutztier, er wird gezüchtet, aufgezogen, ausgeschlachtet, entleert. Ohne die literarische Vorlage zu kennen, fällt in Romaneks Umsetzung dennoch eines deutlich auf: Anstatt den ethischen Diskurs aufzugreifen und die Brutalität jener Dystopie und der vorbestimmten Organspende mit der heutigen Gesellschaft zu verbinden und zu vergleichen, bleibt Romanek oberflächlich, er bleibt zu vorsichtig. Er verwandelt die Handlung in eine Love-Story, die sich nur am Rande mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit, der Hoffnungslosigkeit, des Verlorenseins seitens der Hauptfiguren befasst. In der Liebe suchen sie den Ausweg, durch sie hoffen sie ihrer prädestinierten Zukunft zu entfliehen, darin liegt auch die Stärke und der Tiefgang des Films, gleichzeitig jedoch scheut Romanek große Worte zu sprechen, eine tatsächliche Aussage in seinem Film zu packen. So bleibt Romaneks Film zwar eine gelungene Verfilmung der Dreiecksbeziehung der Hauptfiguren, der Wertinhalt, welcher der Romanvorlage nachgesagt wird, findet sich in ihr dennoch nicht wieder.

Freitag, 3. Juni 2011

Kafka und Haneke

Das Schloß
(Michael Haneke, 1997)

Während eines späten Winterabends trifft der bestellte Landvermesser K. (Ulrich Mühe) in einem, an ein gräfliches Schloss gebundenes, Dorf ein und sucht ein Quartier für die Nacht. Obwohl alle Zimmer belegt sind, gestattet der Wirt des Brückenhofes (Otto Grünmandl), des örtlichen Wirtshauses, dem zu so später Stunde noch Reisenden im Ausschank seines Gasthauses zu nächtigen. K. nimmt das Angebot an und legt sich auf einer Bank nahe den Bauern, welche den Abend im Brückenhof trinkend verbringen, hin, um sich auszuruhen, schon bald wird er jedoch von Schwarzer (Martin Brambach) aus dem Schlaf gerissen und unfreundlich darauf hingewiesen, dass der Aufenthalt im Dorf nur mit Genehmigung des Schlosses erlaubt sei. Als K. erwidert, dass er der bestellte Landvermesser sei, reagiert Schwarzer mit Missgunst, denn, so sagt er, wisse er nichts von einem Landvermesser. Erst nach zwei Telefonaten mit dem Schloss erweist sich K.s Aussage als wahr, woraufhin ihm die Nächtigung gewährt wird. Am nächsten Morgen treffen K.s Gehilfen Artur (Frank Giering) und Jeremias (Felix Eitner) ebenfalls im Brückenhof ein und gestehen, ganz zum Ärger K.s, die für die gemeinsame Arbeit benötigten Gerätschaften vergessen zu haben. K. versucht daraufhin mit dem Schloss in Kontakt zu treten, was auch gelingt, geholfen wird ihm jedoch nicht. Erst durch den privaten Boten Barnabas (Andre Eisermann), welcher an jenem Tag ebenfalls erstmals K. aufsucht, wird eine Verbindung zwischen K. und dem hohen Beamten Klamm hergestellt. Dennoch wird K. nicht informiert, wofür er im Dorf eigentlich benötigt wird, außerdem fehlt ihm sowohl das Werkzeug als auch kompetente Gehilfen, um seine Arbeit auszuüben. Verbissen versucht K. fortan an Klamm heranzukommen, ihm seine Anliegen persönlich vorzubringen, doch das mysteriöse Machtkonstrukt des Schlosses scheint unantastbar zu sein und K.s Vorhaben zu vereiteln. Im Herrenhof lernt er eines Abends das Ausschankmädchen Frieda (Susanne Lothar) kennen, eine Geliebte Klamms, zu der er sich ungewöhnlich hingezogen fühlt und gleichzeitig wohl hofft, durch sie mit Klamm in Verbindung treten zu können.

"Das Schloss" (häufig auch "Das Schloß" geschrieben) ist neben "Der Proceß" ("Der Prozess") und "Der Verschollene" einer der drei unvollendeten Romane des 1924 verstorbenen, österreichisch-ungarischen Autors Franz Kafka. Nach einem nervlichen Zusammenbruch und langen Schreibproblemen begann Kafka 1922 mit seinem Roman, als er sich zusammen mit seinem Arzt auf einem Erholungsaufenthalt im tschechischen Spindlermühle am Fuße der Schneekoppe im Riesengebirge befand. Im tief verschneiten Dorf schöpfte Kafka neue Hoffnung und ließ die Atmosphäre seiner Umgebung in sein neuestes Manuskript einfließen. Auch nach seinem Aufenthalt im nordtschechischen Städtchen schrieb Kafka für über ein halbes Jahr weiter an "Das Schloss", musste den Roman allerdings nach einem weiteren Nervenzusammenbruch im September 1922 beiseite legen und gab ihn infolgedessen ganz auf. 1923 übergab er das unvollendete Manuskript seinem langjährigen Freund und Nachlassverwalter Max Brod, welcher es zwei Jahre nach Kafkas Tod gegen dessen Willen veröffentlichte. Zwar existiert ein mündlich an Max Brod weitergegebenes Ende, ein abschließendes Kapitel konnte Kafka jedoch nicht mehr verfassen.

1997 adaptierte Michael Haneke den Roman in Form einer TV-Produktion und besetzte mit Susanne Lothar und Ulrich Mühe zwei Schauspieler, die mitunter auch aufgrund ihrer wiederholten Zusammenarbeit mit Haneke in dessen deutschsprachigen Produktionen (ausgenommen "La Pianiste" [2001], in welchem Susanne Lothar ebenfalls eine Rolle besetzt) heute große Bekanntheit genießen. Auch der erst kürzlich verstorbene Frank Giering, welcher mit Lothar und Mühe noch im selben Jahr für Hanekes "Funny Games" vor der Kamera stand, spielt als Gehilfe K.s eine bedeutende Rolle in "Das Schloß".

Beeindruckend ist, wie es Michael Haneke mit "Das Schloß" gelingt eine weitgehend werkgetreue Verfilmung der Vorlage abzuliefern und gleichzeitig dem ganzen seinen persönlichen Stempel aufzudrücken. Während Haneke einerseits dem Roman in vielen Details treu bleibt (selbst die Kapitel macht er in Form von extrem harten Schnitten im Film erkennbar) und einige Dialoge sogar 1:1 aus Kafkas Vorlage übernimmt, geht er gleichzeitig - wie üblich - sehr sparsam mit musikalischer Untermalung um und zeigt seine Handschrift besonders in den Szenen, in denen die filmische Umsetzung sich von der Vorlage geringfügig distanziert. Im Buch wird zum Beispiel beim ersten Aufeinandertreffen von K. und Frieda, der Geliebten Klamms, K. angeboten, er könne durch ein Loch in der Wand des Herrenhofes blicken, und werde hinter der Wand den in seinem Büro schlafenden Klamm erblicken. In der Vorlage wird beschrieben: 
"An einem Schreibtisch in der Mitte des Zimmers, in einem bequemen Rundlehnstuhl, saß, grell von einer vor ihm hängenden Glühlampe beleuchtet, Herr Klamm. Ein mittelgroßer, dicker schwerfälliger Herr. Das Gesicht war noch glatt, aber die Wangen senkten sich doch schon mit dem Gewicht des Alters ein wenig hinab. Der schwarze Schnurrbart war lang ausgezogen. Ein schief aufgesetzter, spiegelnder Zwicker verdeckte die Augen." [S. 44]*
Der Blick durchs Guckloch in Hanekes "Das Schloß"
Obwohl Haneke den auktorialen Erzähler Kafkas beibehält, bricht er dieses Schema der Allwissenheit in vereinzelten Szenen, wie zum Beispiel auch hier beim Aufeinandertreffen K.s und Friedas. Obwohl der Blick durch das Guckloch auch bei Haneke vom Protagonisten gewagt wird, bleiben wir in Unwissenheit, was oder wen er dort hinter der Wand denn erblickt hat. Während bei Kafka diese Wand zwischen K. und Klamm einerseits zwar als Ausdruck eines unüberwindbaren Hindernisses dient und die Beschreibung Klamm gleichzeitig für den Leser erstmals real und menschlich werden lässt, spielt die Szene in der Verfilmung eine etwas andere Rolle. Haneke vermeidet die Beschreibung des Beamten bewusst, damit in seiner Adaption mit fortlaufender Handlung die Unantastbarkeit Klamms noch schwerer ins Gewicht fällt. Hier scheint Hanekes Stil deutlich durch, denn das nicht-visuelle Wiedergeben von Schlüsselszenen ist ein Markenzeichen seinerseits, man denke nur an "Benny's Video" (1992) oder "Funny Games" (1997). Bei Kafka ist es zwar auch Klamm, dessen Begegnung von K. angestrebt wird, allerdings ist das Hauptaugenmerk nicht er, sondern die gesamte autoritäre, undurchschaubare Hierarchie und Bürokratie des Schlosses. Bei Haneke steht der Name "Klamm" praktisch als Synonym dafür.

Die Verführung in der Schule - Hanekes "Das Schloß"
Auch das Motiv der Sexualität kommt bei Haneke verstärkt zum Vorschein, während es bei Kafka - zeitgemäß - im Grunde ausgeklammert beziehungsweise nur angedeutet wird. Im Roman empfinden ungewöhnlich viele Frauen eine Zuneigung zu K., selbst Außenstehende, wie eine Schwester des Boten Barnabas oder das spätere Ausschankmädchen Pepi im Herrenhof fühlen sich zu ihm hingezogen. Zwar verarbeitet auch Haneke diese Tatsache in seinem Film, jedoch drückt er durch die Darstellung der Sexualität einen Aspekt aus, welcher bei Kafka lediglich durch Dialoge angerissen wird. K. ist fähig seine Mitmenschen bis zu einem gewissen Grad zu manipulieren, was im Film in zwei Szenen besonders stark zur Geltung kommt. K. verführt Frieda zweimal: Beim ersten Mal gleich nach ihrem Kennenlernen noch im Ausschank des Herrenhofes; beim zweiten Mal in einem leeren Klassenraum der Schule, in der K. als Schuldiener tätig ist. In beiden Fällen handelt es sich praktisch um riskante Tabubrüche: im ersten Fall verkehren sie im Raum neben Klamms Büro (in welchem er schläft), im zweiten Fall wird der Akt sogar durch einen den Raum betretenden Schüler unterbrochen. Das beinahe Jelinek'sche Motiv der sexuellen Manipulation findet sich bei Haneke laufend, nicht nur in der Jelinek-Verfilmung "La Pianiste" (2001).

Hervorzuheben ist abermals, wie großartig es Haneke gelingt, Kafkas Stil filmisch umzusetzen. Bereits die winterliche Kulisse - von Jirí Stibr perfekt eingefangen - gibt die Atmosphäre des Buches eindrucksvoll wieder. Auch das Szenenbild überzeugt durch seine üppigen, vom Alter gezeichneten Holzhütten. Besonders positiv ist zu vermerken, dass Haneke nicht das mündlich überlieferte Ende selbst zu interpretieren, umzusetzen und an den Film zu hängen gewagt, sondern sich aufs Wort genau an die Vorlage gehalten hat. So ist "Das Schloß" ein zu unrecht häufig übersehener Film Hanekes und gleichzeitig neben Orson Welles' "The Trial" (1962) die einzige - mir bekannte - wirklich gelungene Verfilmung eines Werks Kafkas.

----

Montag, 23. Mai 2011

Carrying a big can of paint...


Exit Through the Gift Shop
(Banksy, 2010)

Thierry Guetta ist ein leidenschaftlicher Filmer, der sein Haus praktisch nie ohne seine Kamera verlässt und auch im Kreise seiner Familie alles auf Bändern festhält. Während eines kurzen Aufenthalts in seiner französischen Heimat erkennt Theirry, dass sein Cousin der ambitionierte Invader ist, ein Street Artist, welcher aus kleinen quadratischen Plättchen mosaikartige Abbilder der Figuren aus dem Spiel „Space Invaders“ bastelt und diese an Wänden anklebt. Thierry beginnt, unter dem Vorbehalt einen Dokumentarfilm zu drehen, seinen Cousin und dessen Bekanntschaften bei ihrer Arbeit zu filmen. Als Guetta im Gegenzug Monate später von seinem Cousin besucht wird, öffnet sich ihm Tür zu den Größen der Street Art-Szene, denn Invader hat ein Treffen mit Shepard Fairey organisiert, welcher dem scheinbaren Dokumentarfilmer noch tiefere Einblicke in die Welt der Straßenkunst gewährt. Nach einiger Zeit hat Guetta die herausragendsten Bekanntheiten bereits vor der Kamera gehabt, einzig der mysteriöse Banksy fehlt ihm noch.

Unter dem Pseudonym Banksy arbeitet seit den frühen 90ern ein Street Art-Künstler, welcher mittlerweile zu den berühmtesten Figuren der Szene zählt. Hinter dem Namen verbirgt sich wahrscheinlich der 1973 geborene Brite Robin Gunningham, welcher in seinen künstlerischen Anfangsjahren mit besonderer Vorliebe fremde Wände in Bristol und London schmückte, jedoch sein „Revier“ im Zuge gestiegener Popularität expandierte und heute in zahlreichen Städten rund um den Globus verewigt ist. Thierry Guetta lautet der tatsächliche Namen des französischen Filmemachers, aus dessen Sammlung die Aufnahmen der dokumentierten Street-Artists stammt, um die es sich zu Beginn von „Exit Through the Gift Shop“ dreht. Guetta verspürte jedoch ausgelöst durch seine Bekanntschaften und Beziehungen die Anziehungskraft der Straßenkunstszene und begann unter dem Decknamen Mr. Brainwash selbst als freischaffender Künstler Bekanntheit zu erlangen.

Die kontrastierenden Unterschiede zwischen Banksy und Mr. Brainwash sind einerseits ein Hauptaugenmerk des Films, welches massive Kritik sowohl an der massenkompatiblen Kunst als auch am durchschnittlichen Kunstkonsumenten ausübt und andererseits auch eine Welle an Spekulationen ausgelöst hat, welche Teile des Films denn wirklich authentisch sind beziehungsweise ob es sich bei „Exit Through the Gift Shop“ tatsächlich um eine Dokumentation handelt. Der Perspektivenwechsel zwischen Guetta und Banksy, bei dem die dokumentierten Aufnahmen Guettas verabschiedet werden und aus Banksys Sicht weitererzählt wird, verlieht dem Film eine vollkommen eigene Atmosphäre, er erschafft das Gefühl einer fiktiven Ebene, die Zweifel an den als Wahrheit präsentierten Fakten aufkommen lässt. Kritisiert wird vielerorts auch der unrealistisch rasante Aufstieg Guettas in der Kunstszene, den Banksy selbst mokant kommentiert:

„Most artists take years to develop their style, Thierry seemed to miss out on all those bits.“
Dass die schrullige Figur Guettas durch Bemerkungen wie „I don't know how to play chess, but to me, life is like a game of chess“ auch seinen Beitrag zum allgemeinen Zweifel an der Authentizität des Films leistet, ist selbstredend, selbiges gilt auch für (eventuell) widersprüchliche Aussagen im Bezug auf Thierry Guettas Video-Sammlung. Irgendwo in der Mitte des Films scheint die Grenze zwischen Realem und Schwindel zu versickern. Es geht aus „Exit Through the Gift Shop“ nicht eindeutig hervor, ob Guetta nicht vielleicht doch nur ein von Banksy erschaffenes Mysterium ist, ein ausgetüfteltes Experiment quasi, welches während seiner Entstehung und Entwicklung so eingefangen wurde, dass sich dieser dokumentarische Stil entwickelt hat. „Exit Through the Gift Shop“ könnte ein weiteres Kapitel in Banksys künsterlischem Schaffen darstellen, ein kritischer Scherz quasi, Satire in Dokumentarverkleidung.

Doch ob dies tatsächlich der Fall ist oder nicht, wird den Stoff für zahlreiche Diskussionen der nächsten Jahre liefern, auch wenn es vielleicht gar keine so große Rolle spielt. Vielmehr verpackt Banksy in seinem Film Kritik einerseits an den zu leicht manipulierbaren, selbsternannten Kunstkennern und andererseits auch an den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Thierry Guetta, dem gebürtigen Franzosen, der in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist und trotz erdrückender Talentlosigkeit praktisch über Nacht zu Star geworden ist, steht der verschwiegene, auf seine Anonymität bedachte Banksy gegenüber, welchem erst nach langen Jahren der Arbeit die Anerkennung zuteil wurde, die er verdient. Der Konsument sieht im letztendlichen Werk nie die Vorgeschichte des Künstlers, der Blick hinter die Fassade wird nicht gewagt. Oder vielleicht wird er nicht mehr gewagt, denn Banksy kritisiert die von etablierten Künstlern der Szene kopierten und minimal modifizierten Werke Mr. Bainwashs:

„Warhol repeated iconic images until they became meaningless, but there was still something iconic about them. Thierry really makes them meaningless.“
Vielleicht ist es erst unsere Generation, die mit einem Überfluss an Kunst umspült wird und nicht mehr den kritischen Blick wagt, sich nicht mehr traut, das zu hinterfragen was sie sieht, und stattdessen lieber auf Altbewährtes setzt, und die Konfrontation mit dem Neuen, dem eventuell Kontroversen scheut. Wer weiß schon genau, um wen bzw. worum es sich bei Banksy, „Exit Through the Gift Shop“ und Mr. Brainwash tatsächlich handelt, doch was spielt das schon für eine Rolle. Kritisch und ein ebenso couragiertes Projekt ist der Film alle mal, ganz unabhängig davon, ob es dabei nun um eine Documentary oder eine Mockumentary handelt.

Samstag, 14. Mai 2011

Past, Present, Future and Imagination.

La Jetée
Am Rande des Rollfelds
(Chris Marker, 1962)

Einen namenlosen Mann (Davos Hanich) lässt eine fragmentarische Erinnerung an eine Episode seiner Kindheit nicht mehr los. Er erinnert sich an den Flughafen Paris-Orly, auf dessen Anlegesteg er an jenem Tag unterwegs gewesen ist, und wo das reizende Antlitz einer Frau (Hélène Chatelain) des Buben Blick auf sich gezogen hat. Das Ereignis steht in fester Verbindung mit der Konfrontation des Mannes mit dem Ausbruch des dritten Weltkrieges, welcher den Moment zeichnet. Nicht wissend, ob er das Gesicht der fremden Frau je wirklich zu Gesicht bekommen hat oder ob es nur ein in des Mannes eigener Imagination verwurzeltes Bildnis darstellt, beschäftigt und fasziniert die unbekannte Frau am Flughafen den Mann während den Zeiten des Krieges. Erst Jahre später wird ihm bewusst, dass er damals als Kind noch etwas anderes beobachtet hat. Es war der Tod eines Mannes, welcher sich ebenfalls am Steg befunden hatte. Im Zuge des dritten Weltkriegs ist die Stadt Paris durch Angriffe dem Erdboden gleichgemacht worden, die hohe Radioaktivität an der verseuchten Oberfläche zwingt die letzten Überlebenden dazu im Pariser Untergrund, in den Katakomben zu leben. Die Deutschen, welche siegreich aus dem Krieg hervorgegangen sind, schicken Forscher in jene unterirdischen Gänge, um dort mit Gefangenen Zeitreise-Experimente zu unternehmen, bei denen die Versuchspersonen einen Abstecher in ihre Vergangenheit unternehmen und sich dort Informationen bezüglich der Aufbewahrung von Nahrungsmitteln und Medikamenten aneignen sollen, welche das Überleben der in den Katakomben lebenden Menschen sichern sollen. Die Versuche schlagen jedoch fehl, die Versuchskaninchen sind nicht fähig die nötigen Auskünfte zu liefern, sondern drehen im Zuge der Reisen durch oder versterben gar durch den Schock. Um den Schockfällen entgegenzuwirken suchen die Forscher von da an nach Gefangenen, welche mit intensiven Erinnerungen oder Träumen aus der Zeit vor dem Krieg konfrontiert sind, da sie der Meinung sind, dass dies eben jene Erschütterung  der Versuchspersonen verhindern könnte. Dabei stoßen sie auf den Mann mit den mysteriösen Erinnerung aus seinen Kindheitstagen.

In nur in etwa 28 Minuten erzählt Chris Marker mit "La Jetée" eine der eindrucksvollsten Science-Fiction-Geschichten der Filmgeschichte, ohne sich dabei überhaupt an die Regeln der Filmkunst zu halten. Chris Marker arbeitet in seinen Film mit Standbildaufnahmen, welche mittels eines auktorialen Erzählers miteinander verbunden und werden, und so eine Geschichte erzählen (deshalb wurde der Film vielerorts als "Photoroman" bezeichnet). Nur für einen kurzen Moment, nicht länger als fünf Sekunden, bricht Marker aus den selbst statuierten Normen aus und präsentiert uns eine einzige bewegte Einstellung. Phänomenal platziert, in ihrer Wirkung eine Wucht, so eindrucksvoll, dass der Zuseher selbst für einen Moment an seiner Wahrnehmung zweifelt, denn hat sich das Bild nun bewegt oder nicht?

Chris Marker wurde 1921 in Neuilly-sur-Seine bei Paris geboren und studierte während der 30er unter Sartre Philosophie. Bevor er Anfang der 1950er seine ersten Dokumentarfilme produzierte, arbeitete er in erster Linie als Schriftsteller, Kritiker, Journalist und Fotograf. Seine bis heute über 40 Werke umfassende Filmografie besteht vollständig aus Dokumentationen; mit zwei Ausnahmen: "Sans soleil" (1983) und eben "La Jetée". Marker war zu Beginn der 60er mit den Dreharbeiten zu seiner Doku "Le joli mai" (1963 veröffentlicht) in Paris beschäftigt und sei damals, wie er später erklärte, so tief in die Wirklichkeit der Stadt im Jahre 1962 eingetaucht, dass er das "Cinéma vérité" entdeckt habe und an einem Tag, an dem die Filmcrew frei hatte, loszogen sei, um Bilder zu einer Geschichte aufzunehmen, die er, wie er zugab, damals  selbst nicht verstanden habe. Erst durch den Schnitt habe sich das Puzzle "La Jetée" später selbst zusammengesetzt. Heute wird Marker neben Agnes Varda und Alain Resnais zu den wichtigsten Vertretern der Rive Gauche gezählt, welche eine Gruppe von in Frankreich tätigen Regisseuren/innen beschreibt, welche sich parallel zur Nouvelle Vague entwickelt hat und deshalb von vielen als Untergruppe der französischen Neuen Welle betrachtet wird. Worin sich die beiden Bewegungen jedoch unterscheiden, ist die Tatsache, dass die Nouvelle Vague besonders in ihren Anfängen unpolitische Filme drehte, während die Rive Gauche mit Filmen wie "Hiroshima mon amour" (1959) oder eben "La Jetée" auf eben dieser Ebene deutlich Stellung bezogen. Dennoch werden die beiden Bewegungen oft als Einheit betrachtet, so wird  zum Beispiel Varda häufig als "Mutter der Nouvelle Vague" bezeichnet und Resnais als bedeutender Vertreter beider Bewegungen genannt.

Was an "La Jetée" besonders beeindruckt, ist ein gleichermaßen überraschendes Element. Obwohl der Film sowohl durch seine Beschränkung auf Standbilder  als auch durch seinen dokumentarischen Stil zwischen dem Zuseher und dem Geschehen auf der Leinwand eine enorme Distanz erschafft, gelingt es Marker eine interaktive Komponente in seinen Stoff miteinzuweben. Besonders deutlich wird dieser Aspekt des Films beim bereits oben erwähnten Stilbruch, der bewegten Einstellung. In einem Traum des Mannes erscheint die Frau, welche schlafend in ihrem Bett liegt. Durch extrem weiche Übergänge werden einzelne Stills ineinander übergehend verknüpft, wodurch bereits die Illusion einer Bewegung evoziert wird, sodass die Brücke zur tatsächlichen Einstellung kaum bemerkbar angehängt werden kann. In dieser Aufnahme erwacht die Frau aus ihrem Schlaf uns blickt uns frontal entgegen, bevor Marker durch einen (Quasi-) Matchcut zurück zum Photoroman wechselt, das Aufwachen des Mannes andeutend. Das Aufwachen der Frau ist der transzendente Höhepunkt des Films, wohl beabsichtigt nicht ans Ende platziert sondern mehr oder minder die Mitte schmückend. Vielleicht appelliert Marker an den Zuseher; dieser solle selbst die Augen öffnen; vielleicht aber auch drückt die Szene für die Hauptfigur eine Vorahnung bezüglich des Endes aus. Fest steht nur, dass es Marker gelingt, uns an unserer eigenen Wahrnehmung zweifeln zu lassen, was erst beweist, wie tief man trotz (oder vielleicht gerade aufgrund) der untypischen Verwendung der Standbildaufnahmen in der Geschichte des Films eintaucht, sodass die eigene Vorstellungskraft mithilfe des Voice-over-Kommentars als Lückenfüller zwischen den Bildern fungiert. "La Jetée" ist in dieser Form einzigartig, und wird es wohl ewig bleiben, da eine Rekonstruktion dessen, was Chris Marker hier als Verarbeitung eines Impulses geschaffen hat, sich unmöglich noch einmal nachfühlen lässt.

Samstag, 30. April 2011

Life and Suffering.

Ladri di biciclette
- Fahrraddiebe
(Vittorio De Sica, 1948)

Antonio Ricci (Lamberto Maggiorani) lebt zusammen mit seiner Frau Maria (Lianna Carell) und ihrem gemeinsamen Sohn Bruno (Enzo Staiola) im Arbeiterviertel der Stadt Rom, deren Wirtschaft - sowie die des gesamten krisengeschüttelten Italiens jener Zeit - von den Nachwirkungen des zweiten Weltkriegs schwer gezeichnet ist. Scharenweise betteln aufgebrachte Menschen um Geld, um Arbeit, die Lage ist hoffnungslos. Antonio wird jedoch wider Erwartens eine Stelle als Plakatankleber angeboten, welche er nur auszuüben in der Lage ist, sofern er im Besitz eines fahrtauglichen Fahrrades ist. Da Antonio, um seine Familie zu erhalten, sein Fahrrad erst kürzlich verpfändet hat, bittet er seine Frau, ihm bei der Wiederbeschaffung zu helfen. Zusammen mit Maria bringt er die gemeinsame Bettwäsche zum Pfandleiher, um das Fahrrad wieder auszulösen. Gemeinsam mit seinem Sohn, welcher als Schuhputzer ebenfalls das familiäre Einkommen aufbessert, startet er am nächsten Morgen seinen ersten Arbeitstag, wo er sich von seinem Vorgesetzten zeigen lässt, wie das Ankleben der Plakate funktioniert. Als sich Antonio anschließend erstmals selbstständig ans Plakatieren macht, wird ihm sein Fahrrad kurzerhand gestohlen. Aufgrund seiner Abhängigkeit vom entwendeten Objekt jagt Antonio dem Dieb nach, dieser kann jedoch aufgrund der Hilfe seiner Komplizen fliehen. Erschüttert vom Vorfall macht sich Antonio zusammen mit Bruno auf die Suche nach dem Rad, um seine Stelle nicht zu verlieren.

Der Begriff "neorealismo" wurde erstmals im Jahr 1942 verwendet und beschrieb damals den realitätsnahen, markant tristen Stil, welcher in Luchino Viscontis erstem Spielfilm "Besessenheit" (1942) erstmals zur Geltung kam. Inspiriert vom Poetischen Realismus Frankreichs, welcher im Zuge der wirtschaftlichen Krise Anfang der 1930er entstand, entwickelte sich der Italienische Neorealismus zu einer sowohl literarisch als auch filmisch bedeutenden Epoche, die eine künstlerische Antwort auf den Faschismus darstellte und auf die Missstände im Land Italien aufmerksam machte. Neben Visconti, der sechs Jahre nach seinem Erstlingswerk mit "Die Erde bebt" einen weiteren Meilenstein des Neorealismus auf die Leinwand zauberte, wirkten unter anderem auch Roberto Rossellini mit seiner Kriegstrilogie ("Rom, offene Stadt" (1945), "Paisà" (1946) und "Deutschland im Jahre Null" (1947)), Federico Fellini mit Werken wie "La Strada" (1954) und eben auch Vittorio De Sica mit, um nur eine handvoll zu nennen. Letzterer hatte sich besonders 1946 mit seinem Film "Schuhputzer" einen Namen gemacht. Der Film war beinahe ausschließlich mit Laiendarstellern und an Originalschauplätzen gedreht worden und wurde überraschenderweise ein internationaler Erfolg. "Schuhputzer" war so erfolgreich, dass David O. Selznick De Sica anbot, dessen nächsten Film zu produzieren und dafür Stars wie Cary Grant zu engagieren. De Sica lehnte ab, brachte das Geld selber auf und arbeitete abermals mit Laiendarstellern und an Originalschauplätzen um 1948 "Fahrraddiebe" zu inszenieren.

"Fahrraddiebe" ist ein düsteres Zeitzeugnis des Italiens der Nachkriegszeit. Das Arbeiterviertel, in dem die Geschichte spielt, ist eine triste Gegend, geprägt durch einfache Behausungen, brüchige Fußwege und Straßen und durch aufgebrachte, arbeitslose Männer, die um eine Anstellung regelrecht kämpfen müssen. Das familiäre Leben ist beinahe unmöglich, auch die Kinder müssen arbeiten, und selbst dann muss man sich noch mit allen Mitteln hinters Steuer klemmen, um die Familie versorgen zu können. Beim Pfandleiher herrscht reges Treiben, die Menschen verpfänden jedes entbehrliche Stück Hab und Gut, um Hoffnung schöpfen zu können. In Antonios Fall ist es das Opfer das Bettlaken; es ist das Aufgeben des Komforts, um sich in Form des Fahrrads eine neue Quelle der Hoffnung zu beschaffen. Doch das Opfer ist riskant, da diese Quelle am seidenen Faden hängt, wie sich später herausstellt. Selbst der kleine Bruno erkennt die Missstände im Land und beschwert sich darüber, im Wissen, dass andere Kinder ein weniger schweres Schicksal haben als er. Maria versucht ebenfalls Hoffnung zu schöpfen, besucht eine Wahrsagerin, die jedoch offensichtlich eine Hochstaplerin ist, die nur von der Naivität ihrer Kunden profitiert. Jeder Weg führt in einen Sog der Armut, Verzweiflung und Kriminalität.

Ein bedeutendes Motiv in De Sicas "Fahrraddiebe" ist die Einheit der Masse. Zu Beginn des Films wird eine Ansammlung klagender Männer gezeigt, die einen Arbeitsvermittler kritisieren, der nicht fähig ist, ihnen zu helfen. Nicht dabei in dieser Gruppe ist Antonio, er beklagt sich nicht, auch wenn es ihm keineswegs besser ergeht. Er sitzt abseits der Masse, und überhört sogar seinen Namen, als er vom Vermittler aufgerufen wird. Bereits in dieser Szene wird er als Optimist charakterisiert, eine Eigenschaft, die ihm beim Diebstahl eventuell zum Verhängnis wird. Er passt für einen Moment nicht auf sein Rad auf, welches sogleich entwendet wird. In der Szene des Diebstahls verliert Antonio erstmals seine Lockerheit, die Hektik wird ausgedrückt durch einen schnelleren Schnitt, und deutlich mehr Bewegung. Das Entkommen des Diebs wird durch sein Untertauchen in einer Menschenmenge in einem Tunnel ausgedrückt. Das Motiv der Masse findet sich auch in der Kirchenszene und am signifikantesten wohl in der Schlussszene wieder, welche ein vernichtendes Urteil über die italienische Gesellschaft der damaligen Zeit abgibt.

Vittorio De Sica lieferte mit "Fahrraddiebe" eines der eindrucksvollsten Werke der Filmgeschichte ab, ein zeitloses Werk, welches auch heute noch - oder vielleicht ganz besonders heute - einen unglaublichen Wert besitzt, denn auch im  21. Jahrhundert sind die Missstände in Italien spürbar, junge Menschen finden trotz ausgezeichneter Ausbildung keinen Job und das Nord-Süd-Gefälle des Wohlstands zieht auch heute noch Proteste und Demonstrationen nach sich. Was die Größe von De Sicas Film wohl zusätzlich verstärkt, ist ein Aspekt, welchen Rossellini  in seinen neorealistischen Werken stets fokussiert betrachtet hat: Die Last der problematischen Umstände auf die Kinder. Der Figur des Bruno dient in "Fahrraddiebe" auch als kindlicher Beobachter, durch den wir noch wesentlich mehr mitleiden als wir ohnehin schon täten. Und das wiederum verstärkt die Botschaft des Films erheblich, denn "Fahrraddiebe" vermittelt uns, dass es Umstände im Leben geben kann, aufgrund derer das Leid so groß wird, dass es uns Unsagbares tun lässt.

Hier möchte ich auch dankbar auf die beiden Besprechungen verweisen, die meine längst überfällige Sichtungen angekurbelt haben: 

Montag, 25. April 2011

You saw nothing in Hiroshima.

Hiroshima mon amour -
Hiroshima, mon amour
(Alain Resnais, 1959)

Eine namenlose verheiratete französische Schauspielerin (Emmanuelle Riva) begibt sich für den Dreh ihres nächsten Films nach Hiroshima. Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ist bereits über ein Jahrzehnt vergangen, die furchtbaren Ereignisse, die jenes Endes nach sich führten, sind jedoch nach wie vor in die Gehirne der Menschen eingebrannt. Hiroshima ist im Bewusstsein jedes einzelnen geblieben, der Bombenabwurf lässt selbst Jahre später jeden Betroffenheit fühlen. Direkt am Ort des Schreckens erinnert sie, die Schauspielerin, sich an das Geschehe, wird mit dem konfrontiert, was sie damals - großteils medial - miterlebt hat. Das was sie gesehen hat, hat sie aus Museen, aus Dokumentarfilmen und einem Besuch im Krankenhaus der betroffenen Stadt. Im Beisein eines japanischen Architekten (Eiji Okada), mit dem sie eine Affäre begonnen hat, schüttet sie ihr Bewusstsein aus, erinnert sich an all das, was sie mit der Stadt Hiroshima verbindet, doch er relativiert ihre Erinnerungen. Nichts habe sie gesehen, erklärt er ihr, gar nichts. Er war am Tag des Atombombenabwurfs aufgrund seines militärischen Diensts nicht in der Stadt, seine Familie hätte das Fürchterliche jedoch miterlebt, teilt er ihr mit.
Als sie am folgenden Tag erklärt, dass sie bereits sehr bald wieder zurück in ihre Heimat nach Paris fliegen werde, versucht er sie umzustimmen. Er bleibt bei ihr, verbringt den Tag mit ihr, und versucht sie besser kennenzulernen, worauf sie ihm eine traumatische Episode aus ihrer Vergangenheit in der französischen Stadt Nevers schildert.

Resnais' "Hiroshima, mon amour" zählt neben Truffauts "Sie küßten und sie schlugen ihn" (1959) und Godards "Atemlos" (1960) zu den ersten und wichtigsten Vertretern der französischen Nouvelle Vague. Gleichzeitig handelt es sich bei "Hiroshima, mon amour" um Resnais ersten Versuch im Spielfilm Fuß zu fassen. Zuvor war er als Dokumentarfilmer tätig, der besonders mit "Nacht und Nebel" (1955), einer Dokumentation über die sogenannte Nacht-und-Nebel-Aktion der Nationalsozialisten im zweiten Weltkrieg, bei der Widerstandskämpfer verschwanden und in Konzentrationslager deportiert wurden, einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte. "Hiroshima, mon amour" war zu Beginn ebenfalls als Dokumentarfilm konzipiert, Resnais Überzeugung, dass der Horror des Bombenabwurfs in filmischer Verarbeitung jedoch nicht begreifbar sei, war jedoch ausschlaggebend, dass dem Film noch eine fiktionale Ebene hinzugefügt wurde. Zwar arbeitet "Hiroshima, mon amour" anfangs mit realen Archivaufnahmen zu den Auswirkungen des Bombenabwurfs, jedoch geht dies nur fragmentarisch vonstatten, stets im Bezug zur fiktionalen Komponente des Films. So entstand mit "Hiroshima, mon amour" Resnais erster Spielfilm, lose nach dem Vorbild des Nouveau Roman orientiert, einer experimentellen Literaturform, die erzählerischen Grenzen der Kausalität, des Raums und der Zeit sprengten. Diese Anlehnung auf besagte literarische Gattung ist zurückzuführen auf Marguerite Duras, die oscarnominierte Drehbuchautorin des Films, welche sich bereits Jahre zuvor als Nouveau-Roman-Autorin einen Namen gemacht hatte. Zwei Jahre später folgte mit "Letztes Jahr in Marienbad" ein Film Resnais', der sich noch konsequenter an den Nouveau Roman anlehnte.

Aufgrund seiner eindrucksvollen Schnitttechnik und seines perfekten Einsatz von Rückblenden, deren fließendes Zusammenspiel mit der gegenwärtigen Komponente des Films besonders auffällt, zählt "Hiroshima, mon amour" zu den Mitbegründern der Nouvelle Vague. Besonders der Einsatz vom Match Cuts, welche in diesem Fall häufig Assoziationen der Protagonistin mit ihrer Vergangenheit andeuten, kennzeichnet Resnais' "Hiroshima, mon amour". 

Match Cut in "Hiroshima, mon amour"
Wiederholt deutet Resnais Verbindungen zwischen der Geschichte der Protagonistin und den Vorfällen in Hiroshima an. Die Vergangenheit der weiblichen Hauptfigur dreht sich um ihre Liebe zu einem deutschen Soldaten, für die sie von den Bewohnern der Stadt Nevers verstoßen wird. Man sperrt sie einen Keller, schneidet ihre Haare ab und hört nicht auch ihre Hilferufe. Besonders das Abschneiden der Haare erinnert an den Haarausfall als Reaktion auf die radioaktive Strahlung. Tatsächlich weist Resnais bereits zu Beginn des Films während des Monologs der Protagonistin auf besagte Reaktion in Form einer Archivaufnahme hin. Auch das Eingschlossensein im Keller stellt eine Parallele zur Nachwirkung des Bombenabwurfs dar, denn der Keller wirkt ähnlich zertrümmert, einengend, und düster wie das mögliche Innenleben einer Ruine. Auch das erste Bild des Films, die beiden Liebenden eingedeckt von Asche, stellt den Bezug zur Katastrophe her.

Erste Einstellung in "Hiroshima, mon amour"
"Hiroshima, mon amour" zu beschreiben, einzuordnen oder gar zu interpretieren, fällt schwer, da er sich nicht nach filmischen Konventionen richtet, keine Geradlinigkeit aufweist und selbst die Thematik nicht vollkommen klar hervorgeht. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Protagonisten ist mehr als nur eine Liebelei, am deutlichsten wohl spürbar in der Tatsache, dass die beiden - wie schon die Hauptfiguren in "Letztes Jahr in Marienbad" - keine Namen tragen. Resnais außergewöhnliches Schaffen bleibt unbegreiflich vielseitig, so auch "Hiroshima, mon amour", wobei die Kritik der "Der Spiegel"-Ausgabe 18/1960 den Film wohl am besten beschreibt:
"'Hiroshima, mon amour' ist gefilmtes Bewußtsein."

Sonntag, 17. April 2011

Der sichtbare Teil des Himmels.

Das weisse Rauschen
(Hans Weingartner, 2001)

Das ländliche Dorf, in welchem Lukas (Daniel Brühl) sein gesamtes Leben verbracht hat, beginnt den jungen Maturanten anzuöden, die Chancen dort etwas aus sich zu machen, sind zu klein, er strebt Größeres an. Seine ältere Schwester Kati (Anabelle Lachatte) hat einst das Selbe durchgemacht und ist infolge ihres erfolgreichen Abschlusses nach Köln gezogen, wo sie nachwievor lebt und studiert. Um ihrem Bruder, der nach dem Suizid der Mutter zusammen mit dem Vater das Haus der gemeinsamen Kindheit bewohnt, aus den Fesseln des philiströsen Lebens der Kleinstadt zu befreien, bietet Kati ihm an, bei ihr und ihrem Freund Jochen (Patrik Joswig) einzuziehen und in Köln ein Studium aufzunehmen. Lukas nimmt die Offerte an. Von der ländlichen Umgebung geprägt, präsentiert sich Köln für den Abiturienten als hektischer Hexenkessel. Dröhnender Baustellenlärm, stockender Verkehr, Stress und ein reges Nachtleben. Im Beisein seiner Schwester und ihres Freundes greift er das erste Mal zu Drogen und verbringt die Nacht  im Vollrausch mit seinen beiden Mitbewohnern. Im Zuge dessen verliert  Lukas den Halt. Der Traum, sich ins Gefüge der Universität einzuleben, misslingt, dennoch bleibt er in Köln, wo er auf einer Party Annabell (Katharina Schüttler) kennenlernt. Er lädt sie ins Kino ein, wo sich die beiden Scorseses "Taxi Driver" ansehen wollen, als sie an der Kasse jedoch erfahren, dass besagter Film an jenem Abend gar nicht gezeigt werden würde, rastet Lukas vor seinem Date aus, beginnt zu randalieren und bewegt seine Begleitung dazu vor ihm zu fliehen. Lukas' Verhalten wird zunehmend aggressiver und gipfelt nach dem Konsum psychoaktiver Pilze in einer hysterischen Attacke, in der der junge Mann erstmals Stimmen in seinem Kopf hört, die ihn fortan immer häufiger traktieren.

Der österreichische Regisseur Hans Weingartner studierte ursprünglich Physik in Wien, stieg jedoch bereits nach einem Jahr auf das Studium der Neurowissenschaften um, welches er 1997 erfolgreich im Berlin abschloss. Während seines Studiums in Wien ließ er sich zwischen 1993 und 1994 zum Kameraassistenten ausbilden, was ihm 1995 zugute kam, als er als Produktionsassistent für Richard Linklaters "Before Sunrise" (1995) arbeiten und sogar einen Kurzauftritt absolvieren durfte. 1997 ging er nach Köln, wo er auf der Kunsthochschule für Medien Köln bis 2000 studierte und mit "Das weisse Rauschen" seinen ersten Spielfilm ablieferte, der gleichzeitig als Absolventenfilm diente, und bei zahlreichen Festivals Preise abräumte. Seinen Status als talentierten jungen Filmemacher festigte der Österreicher in den darauffolgenden Jahren mit "Die fetten Jahre sind vorbei" (2004), "Free Rainer" (2007) und "Gefährder", welcher ein Teil des deutschen Kurzfilmprojekts "Deutschland 09" war.

"Das weisse Rauschen" kennzeichnet sich - wie mit Abstrichen auch die späteren Werke Weingartners - durch seinen minimalistischen Stil, welcher hier im Gegensatz zu seinen aktuelleren Filmen jedoch zwingend war. Das Budget von knapp über 40.000 Mark ließ dem damals 31-jährigen keine andere Wahl, als den Film ganz im Stile des Dogma 95 mit einer (digitalen) Handkamera zu drehen. Selbstredend beschritt Weingartner in seinem Debütfilm kein unbekanntes Terrain, denn durch seine Arbeit auf dem Sektor der Neurologie bot sich die Schizophrenie als vertrautes Thema und perfekte Vorlage an. Tatsächlich gelingt es dem Film bereits durch seine kamerabedingt befreite Wirkung jene Materie viel bedrückender darzustellen als wesentlich prominentere Filme wie zum Beispiel "A Beautiful Mind" (Ron Howard, 2001). Bereits in einem Zitat der Hauptfigur aus dem Off fasst sich Weingartners Film in seiner Botschaft selbst zusammen: 
"Für die Ärzte war ich schizophren, für die meisten anderen einfach nur ein Spinner. Mir war das eigentlich egal, wie die Leute mich nennen. Wonach ich suchte, das war ein Leben, das ich führen kann."
Auch Daniel Brühl, dessen Karriere durch "Das weisse Rauschen" erst so richtig in Fahrt kam, muss man loben, sein Spiel stellt die resistente Stütze des Films dar. In manchen Punkten erkennt man jedoch deutlich, dass es sich bei "Das weisse Rauschen" um einen Debütfilm haltet. So schleichen sich hier und da kleinere und größere Continuity-Ungereimtheiten ein und auch im Drehbuch finden sich Unklarheiten, wie zum Beispiel in der Kindheit des Geschwisterpaars mit seinen Eltern. Was dem Film ebenfalls etwas schadet ist der Versuch eine Verbindung zwischen der Schizophrenie und dem Spirituellen herzustellen. Der Film bringt den Pfad der Erleuchtung zur Sprache und erklärt die Bedeutung des "Weissen Rauschens" als Sammlung "aller Visionen, aller Menschen, aller Zeiten in einem Augenblick". Außerdem sei es "der ultimative Trip". Diese Darstellung der Schizophrenie als metaphysisches, transzendentes Erlebnis erschwert den Zugang zum Film auf unnötige Art und Weise.

"Das weisse Rauschen" ist dennoch ein couragierter Film, der auf den Druck, der auf schizophren-psychotischen Patienten lastet, aufmerksam macht, und durch einen Bruch der vierten Wand am Ende des Film auch einen angenehm appellierenden Nachgeschmack beinhaltet.

Mittwoch, 13. April 2011

Aktion deutscher Film.

Der minimalen Präsenz Deutscher, Österreichischer und Schweizer Produktionen im Internet entgegenzuwirken, ist generell eine hervorragende Idee, die Organisation einer derartigen Aktion darf jedoch keinesfalls unterschätzt werden. Der werte Blogger-Kollege Intergalactic Ape-Man entschied sich mit der von ihm gegründeten Aktion deutscher Film dennoch, den administrativen Part einer derartigen Unterstützung des Deutschen, Österreichischen und Schweizer Films zu übernehmen. Dafür möchte ich ein großes Lob aussprechen und mich in Form der Teilnahme an besagter Aktion unterstützend für die Organisation bedanken. Vielen Dank!

Neben dem russischen bzw. sowjetischen und dem französischen Kino zählt das deutsche wohl innerhalb Europas zu den einflussreichsten, und wirkte auch  erheblich auf die amerikanische Filmgeschichte durch zahlreiche Regie-Exporte ein. Trotz einer Großzahl an Klassikern, die der deutschsprachige Film zu Buche stehen hat, ist es in den letzten Jahren eher ruhig um ihn geworden. Ich möchte hier keinesfalls die beiden Auslandsoscar-prämierten Filme "Das Leben der Anderen" (Florian Henckel von Donnersmark, 2006) und "Die Fälscher" (Stefan Ruzowitzky, 2007) unterschlagen, die jeweils für Furore gesorgt haben, trotzdem, die Weltmacht, die man einst gewesen ist, ist man nun leider nicht mehr. Zumindest nicht, was die internationale Aufmerksamkeit angeht, die sich momentan (zu Unrecht) von D/Ö/S-Produktionen abwendet, obwohl unter ihnen unterschätzte oder kaum wahrgenommene Perlen liegen, die es zu entdecken gibt. Meine 10 (chronologisch geordneten) Lieblingsfilme, beinhalten einerseits neuere Filme aus den besagten Produktionsländern, erinnern jedoch  andererseits auch an den ein oder anderen Stummfilmklassiker.

- Das Cabinet des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1920)
- Metropolis (Fritz Lang, 1927)
- M - Eine Stadt sucht einen Mörder (Fritz Lang, 1931)
- Es geschah am hellichten Tag (Ladislao Vajda, 1958) 
- In einem Jahr mit 13 Monden (Rainer Werner Fassbinder, 1978)
- Fitzcarraldo (Werner Herzog, 1982)
- Der Himmel über Berlin (Wim Wenders, 1987)
- Funny Games (Michael Haneke, 1997)
- Hundstage (Ulrich Seidl, 2001)
- Revanche (Götz Spielmann, 2008)

Ich hoffe, es ist kein Problem, dass ich eine Liste ohne Reihung vorlege; mir fallen derartige wertungsorientierte Reihungen  momentan eher schwer. Auch die Auswahl der letztendlichen Top 10 war nicht ganz einfach, da man im D/Ö/S-Film noch einige Schmuckstücke aufzählen könnte. Ich hoffe dennoch, dass alles in Ordnung geht.

Samstag, 2. April 2011

In Heaven everything is fine.

Eraserhead
(David Lynch, 1977)
Eine postapokalyptische Szenerie: Auf einem scheinbar völlig entseelten Planeten befindet sich inmitten einer endlosen von Kratern übersäten Landschaft eine Blechhütte. In ihr sitzt vor einer Reihe von Hebeln und Schaltern ein entstelltes Geschöpf (Jack Fisk), das fähig ist, die Geschehnisse auf seinem Planeten durch die Betätigung der Armaturen zu beeinflussen. 
In einem desolaten Städtchen, dessen Erscheinung stark durch die garstige Omnipräsenz umliegender, industrieller Anlagen und Fabriken geprägt ist, lebt Henry (Jack Nance), ein Buchdrucker, der eine minimalistische Bleibe in einem schaurigen Appartementgebäude behaust. Als er eines Tages nach Hause kommt berichtet ihm seine, ihm bis dato unbekannte, Nachbarin (Judith Anna Roberts), dass er während seiner Abwesenheit einen Anruf von seiner Freundin Mary (Charlotte Stewart) erhalten habe. Diese hat ihn, wie sich herausstellt, trotz längerer Funkstille aus heiterem Himmel zum Dinner mit ihrer Familie eingeladen. Trotz seiner sozialen Schwerfälligkeit kann sich Henry zum unerwarteten Treffen überwinden, und erfährt dort, dass Mary ein Frühgeborenes zur Welt gebracht hat, dessen Vater er zu sein scheint. Das Elternpaar zieht zusammen mit dem Baby in Henrys Appartement, wo sich der bereits abzeichnende Albtraum entfaltet und sich die Stadt in einen regelrechten Moloch verwandelt, der Henry in einen bodenlosen Abgrund stößt.

Bereits ab Mitte der 60er lieferte David Lynch mit seinen ersten Kurzfilmen durchaus ambitionierte Werke ab, die zum Teil Motive beinhalteten, die sich auch in seinem späteren Schaffen wiederfinden. Sein erster Schritt auf filmischem Boden war  der tinnitus-ähnliche "Six Men Getting Sick (Six Times)" (1966), der mehr ein Experiment darstellt als einen zielstrebigen Versuch sich filmisch zu betätigen.  Lynch, ein passionierter Maler, erklärte später, dass sein damaliges Ziel jenes gewesen war, Bewegung in seine Gemälde zu bringen. Zwei Jahre später folgte der groteske "The Alphabet", der auf einem Traum  der Nichte  von Lynchs damaliger Ehefrau basiert. 1970 präsentierte David Lynch seinen erschütternden etwa 30-minütigen Kurzfilm "The Grandmother" über einen bettnässenden Jungen, der von seinen Eltern für sein Problem regelrecht gequält wird und sich als Flucht vor dem Alltag aus einem Pflanzensamen und einem Haufen Erde eine Bezugsperson, eine Großmutter erschafft. "The Grandmother" war Lynchs erster Film, der versuchte, eine richtige Handlung zu inkludieren, und dieser zu folgen. "The Amputee" (1974) unterbrach die Dreharbeiten zu Lynchs "Eraserhead" und stellte gleichzeitig die letzte Vorarbeit zu dessen Veröffentlichung dar. "Eraserhead" erschien drei Jahre später und war  ein  regelrechtes Mammutprojekt, ein Meilenstein des amerikanischen Independent-Kinos, der Lynch später in die Riege der eindrucksvollsten Surrealisten des Kinos hieven sollte.

"Eraserhead" war kein Mammutprojekt im finanziellen Sinne. Bei einem Budget von 10.000$ ließe sich eher vom Gegenteil sprechen. Was den Film jedoch so bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass er eine eindrucksvolle Demonstration von künstlerischer Beharrlichkeit darstellt, die sich für Lynch auf lange Sicht wohl zweifellos ausgezahlt hat. Über sechs Jahre Drehzeit mit minimalistischen Mitteln; Freunde Lynchs, die im Grunde jede Position sowohl vor als auch hinter der Kamera auffüllten; der ursprünglich engagierte Kameramann Herbert Cardwell, der unter ungeklärten Umständen, neun Monate nach Beginn des Drehs verstarb; dies sind nur eine handvoll Fakten, die Lynchs "Eraserhead" bereits durch seine Schaffensgeschichte zu einem Mysterium machen. Was Lynchs ersten Spielfilm jedoch wohl am meisten kennzeichnet und ein unheimliches Interesse nach sich zieht, ist das ominöse Baby, das Frühgeborene. Bis heute ist sowohl ungeklärt, wie das Baby  wirklich gemacht wurde, als auch wie Lynch die Motorik seiner Figur so realistisch steuern konnte. Die Veröffentlichung von Lynchs "Eraserhead" stellte sich finanziell zu Beginn als Flop heraus, der Film wurde in Kinos aufgrund seines Inhalts nur in Spätvorstellungen (siehe Midnight Movies) gezeigt, wo er unter Fans langsam Kultstatus erreichte. Den letzten Griff unter die Flügel Lynchs tätigte jedoch Mel Brooks, der von Lynchs Erstlingswerk so begeistert war, dass er dem jungen Regisseur infolgedessen die Regie zu - dem später achtfach oscarnominierten - "The Elephant Man" verschaffte.

Lynch selbst verweigert noch heute jeglichen Kommentar zur Interpretation seines Films, wodurch rund um „Eraserhead“ zahlreiche Deutungen entstanden sind. Lynch selbst hat lediglich betont, dass der Schlüssel zum Film ein Bibelvers sei, und dass „Eraserhead“ somit sein spirituellster Film sei. Wie so oft bei Lynch, lassen einen selbst zahllose Sichtungen seines Films eher ratlos zurück, ich werde dennoch versuchen, den Film meiner Auffassung und Rezeption entsprechend zu interpretieren und hier darzulegen, weswegen ich ab hier aufgrund massivster Spoiler warne.

Der Planet in Henrys Kopf
"Eraserhead" beginnt mit einem metaphorischen Bild vom Kopf Henrys, der einen Planeten in sich aufnimmt. Auf diesem Planeten befindet sich in einer Blechhütte der entstellte The Man in the Planet (Jack Fisk). Der Intercut zwischen Henrys Haupt und dem Geschehen auf dem Planeten deutet an, dass sich besagtes primär in Henrys Kopf abspielt. Die Aufnahme des Planeten in den Kopf kann als Gedanken, den Henry in sich aufnimmt, oder als Erkenntnis, die ihm kommt, gelesen werden. Nachdem The Man in the Planet auf dem Planeten lokalisiert wird, folgt ein Schnitt zurück zu Henry, aus dessen Kopf der Planet nun gewichen ist und stattdessen ein spermatozoonähnliches Gebilde in ihm zappelt. Zu beachten ist, dass - im Gegensatz zur Einstellung, in der die Verbindung zwischen Henrys Kopf und dem Planeten angedeutet wird - die Mimik Henrys nun im Beisein des Spermatozoons ängstliche, besorgte Züge annimmt. The Man in the Planet beobachtet das Geschehen rund um Henrys Kopf scheinbar durch das Fenster seiner Behausung. Angeregt durch die Präsenz des Spermiums wendet er sich den sich vor ihm befindenden Hebeln zu und zieht an ihnen. Was folgt ist die Entfernung der Samenzelle aus Henrys Abbild, hinein in eine Pfütze auf dem Planeten; eine Abfolge, die sich als Befruchtung deuten lässt. Es folgt eine Nahaufnahme in die Pfütze, die in eine Weißblende übergeht und den ersten Teil des Films abschließt.

Die angedeutete Befruchtung in "Eraserhead"

Im Anschluss folgt die dialoglose Einführung Henrys als Hauptfigur und eine Skizzierung der Welt, die ihn umgibt. Es handelt sich dabei um eine ausladende, abstoßende Gegend, umgeben von zahllosen Fabriken, dreckigen Wegen und haushohen Mauern. Auch das Gebäude, in dem sich Henrys Appartement befindet, wirkt scheußlich, die Lampen spenden unzureichendes Licht, um den Vorraum zu erhellen, Fenster scheint man vergeblich zu suchen und selbst das Muster des Bodens wirkt beklemmend (jenes Muster kennzeichnet übrigens auch den Red Room in „Twin Peaks“ und „Twin Peaks – Fire Walk with me“). Henrys Bewegungen in jenem Gebäude wirken mechanisch, trotz der Dunkelheit stapft er unbemüht durch den Vorraum, es folgt ein obligater Griff in das - wie immer - leere Postfach und der Gang in den klapprigen alten Aufzug. Im Korridor vor seiner Wohnung wird er – scheinbar zum ersten Mal – von seiner Nachbarin angesprochen, die ihn fragt, ob er Henry sei. Als dieser jene Frage bejaht, erklärt die namenlose Nachbarin, es habe eine „Mary“ angerufen, die Henry noch an jenem Abend zum Dinner einladen würde. Sichtlich geschockt vom ersten Treffen mit seiner Nachbarin zieht sich Henry in seine bescheidene Bleibe zurück.  
Die industriell dominierte Welt in "Eraserhead"
Die Wohnung unterscheidet sich in ihrem Aussehen im Grunde gar nicht von der Erscheinung ihrer Umgebung. Ihr einziger, im Film sichtbarer Raum besitzt zahllose dunkle Winkel, das Mobiliar beschränkt sich aufs Nötigste und Pflanzen gibt es wie ihm umliegenden Areal nur begrenzt, im Fall von Henrys Wohnung nur in Form von Moos- und Dreckhügeln, die den Raum an Stelle von Topfpflanzen schmücken. Alleine in Henrys Wohnung finden sich zahlreiche Bezüge zu Lynchs vorhergehenden Kurzfilmen: das Motiv des Organischen aus „The Grandmother“, die durch Mark und Bein gehende Soundkulisse aus „Six Men Getting Sick“ und die kafkaeske Bedrohlichkeit des Bettes aus „The Alphabet“, die sich besonders später im Film wiederfinden lässt. So skurril es aufgrund der sozialen Abgeschiedenheit der Hauptfigur Henry auch klingen mag, er fügt sich in seine Umwelt ein, im Grunde nahtlos sogar, einzig die Konversation mit seiner Nachbarin stellt einen Bruch in seinem absonderlichen Wohlbefinden dar.

Der Empfang des Appartmentgebäudes in "Eraserhead"

Beim Treffen mit seiner Freundin und deren Eltern deutet Henry an, dass er Mary seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hat. „You never come around anymore“, wirft er ihr vor, die darauf keine Antwort zu geben weiß. Das Haus der Familie ist ebenfalls absonderlich, liegt direkt an den Gleisen einer Eisenbahn und ist ebenso düster und ausladend. Während des Dinners wird Henry dazu aufgefordert ein Hühnchen, das auffällig klein ist, anzuschneiden. Als er mit der Gabel in die Mahlzeit sticht, trieft Blut heraus und das tote Tier beginnt sich zu bewegen. Marys Mutter reagiert darauf mit einem Anfall, während die Kamera in eine extreme Nahaufnahme der Austrittswunde des Bluts wechselt, die automatisch den Bezug zum Beginn des Films und der allegorischen Darstellung der Befruchtung herstellt. Nach einem Gespräch unter vier Augen mit dem Vater Marys wird Henry von Marys Mutter zur Rede gestellt. Sie will von ihm wissen, ob er mit ihrer Tochter Geschlechtsverkehr gehabt habe. Während der Konfrontation beginnt Henrys Nase zu bluten, was eventuell auf die Erinnerung an die Szenerie auf dem Planeten zu Beginn des Films zurückzuführen ist. Ob es sich bei dem Geschehen zu Beginn des Films um einen Traum oder vielleicht auch einen Gedanken handelt, wird nicht näher erklärt, jedoch dient er Henry als Zukunftsvision. Die angedeutete Befruchtung hat wirklich stattgefunden, worauf bereits während des Dinners durch das blutende Hühnchen hingewiesen und durch die Konversation mit der Mutter bewiesen wird. Durch die Feststellung, dass sich seine Vision bewahrheitet hat, leidet Henry unter einer Art kognitiver Dissonanz, einem Störgefühl, welches durch das Nasenbluten ausgedrückt wird. Jedoch öffnet ihm diese Erkenntnis gleichzeitig eine Tür, die ihn – eventuell nur unterbewusst – wissen lässt, dass er das Zentrum einer von ihm erdachten, einer solipsistischen Welt bildet. Wenn man so will, nimmt er dadurch eine gottgleiche Position ein, ist sich dessen jedoch selbst nicht bewusst. Seine Vision zu Beginn des Films deutet jedoch an, dass er vom The Man in the Planet mithilfe der Armaturen gesteuert wird. Eine anschließende Kamerafahrt durch das Wohnzimmer des gastgebenden Familie – in dem sich nun ebenfalls die Ansammlungen von Dreck befinden, die wir bereits aus Henrys Wohnung kennen – deutet Veränderungen an, während die anschließende Schwarzblende einen größeren zeitlichen Sprung erahnen lässt.

Das Baby lebt nun bereits zusammen mit Mary in Henrys vier Wänden. Als Henry sein Postfach überprüft, findet er darin eine kleine Schachtel, die eine Art Wurm beinhaltet. Er denkt nicht daran, die Zusendung seiner Freundin zu zeigen. In einer der folgenden Szenen blickt Henry auf den Heizkörper in seinem Zimmer und erkennt dahinter eine kleine, leere Bühne, auf der im späteren Verlauf des Films The Lady in the Radiator ihren Auftritt haben wird. Henry erkennt hier bereits, dass jemand versucht mit ihm in Kontakt zu treten.

Die Bühne hinter dem Heizkörper

In der folgenden Nacht hört das Baby nicht auf zu schreien, worunter sowohl Mary als auch Henry schwer leiden. Mary hält das Zusammenleben nicht mehr aus und flieht. Noch in der selben Nacht erkrankt das Baby. Falls es sich bei Henrys Umwelt wirklich nur um eine von ihm erschaffene Welt handelt - was erklären würde, warum er sich in dieses absonderliche Umfeld zu perfekt einfügt – so wäre es möglich, dass das Baby als Produkt Henrys im Gegensatz zu allen anderen Geschöpfen in dieser Welt aktiv am Geschehen teil hat und fähig ist, jenes zu verändern. Wenn das Baby nun erkennt, dass Henry mit einer parallelen Welt/Realität zu kommunizieren versucht, so würde es versuchen, dies zu verhindern, um seine eigene Existenz zu schützen. Die Erkrankung des Babys könnte somit als Versuch gedeutet werden, Henry vom Vorhaben der Kommunikation mit dieser Parallelrealität abzuhalten, indem das Wesen Henry dazu bringt, sich um es zu kümmern. Dieses Vorhaben gelingt scheinbar nur temporär, denn Henry wirft später in jener Nacht einen Blick in seinen Schrank, wo er den oben erwähnten Wurm versteckt hat. Um zu überprüfen, ob er eine derartige Zusendung noch einmal empfangen habe, zieht sich Henry seinen Mantel an, um das Postkästchen aufzusuchen. Ein lautes Weinen des Babys jedoch verhindert Henrys Verlassen der Wohnung, woraufhin er bei seinem Baby bleibt. Vor dem Einschlafen kommt es dennoch zur erneuten Interaktion zwischen Henry und der zweiten Welt. Im Heizkörper wird abermals die kleine Bühne beleuchtet, doch diesmal ist The Lady in the Radiator dort. Sie tänzelt auf der Bühne herum, während von oben übergroße Spermatozoen (die gleichen wie das eine zu Beginn des Films) auf die Bühne fallen. Sie zertretet die herabfallenden Spermien und fordert Henry auf diese Weise zur postnatalen Abtreibung, oder - einfacher gesagt - zum Mord des Kindes auf. 

Das für Lynch typische Eintauchen in eine andere Welt
in "Eraserhead"

In der anschließenden Szene erwacht Henry zwar, träumt dies jedoch nur. Diese Tatsache wird durch die Anwesenheit Marys ausgedrückt, die plötzlich wieder neben ihm im Bett liegt. Zwischen sich und seiner Freundin findet Henry nun ähnliche Spermatozoen wie jene, die von der Frau im Heizkörper zertreten wurden. Wie aufgetragen, zerstört er sie, indem er sie an die Wand wirft. Der Traum könnte auch als Erinnerung an den Beischlaf gedeutet werden, aus welchem resultierend das Baby hervorgegangen ist. Henry wünscht sich demnach, dass das Baby niemals geboren worden wäre. Innerhalb des Traumes kommt es abermals zur Konnexion mit der Parallelwelt, welche durch das für Lynch typische Eintauchen in eine andere Welt eingeleitet wird. Zuerst trifft Henry in seinem Traum auf seine Nachbarin, mit der er im Anschluss sexuell verkehrt. Der Akt wird jedoch plötzlich unterbrochen von einem Lied der Lady in the Radiator. Ein Auszug aus dem Text jenes Songs:
„In Heaven, everything is fine
In Heaven, everything is fine
In Heaven, everything is fine
You've got your good things, and I've got mine“
Henry folgt ihr auf die Bühne und steht ihr gegenüber. In einer Schuss-Gegenschuss-Montage verschwindet sie jedoch und anstelle ihrer erscheint The Man in the Planet. Der Traum offenbart Henry also, dass, solange The Man in the Planet existiert, es ihm nicht gelingen kann, The Lady in the Radiator zu erreichen und mit ihr den Himmel zu beschreiten. Im Anschluss folgt im Traum eine Szene, in der Henrys Kopf sich vom Körper trennt und in einer Blutlache auf der Bühne liegen bleibt. Anstelle von Henrys Kopf wird Henrys Torso nun vom Kopf des Babys geschmückt, was andeuten soll, dass, wenn Henry nicht handelt, das Baby seine Position in der absonderlichen Welt einnehmen wird. Sein Kopf wird im Anschluss in einer Fabrik zu Radiergummiaufsätzen für Bleistifte verarbeitet. Der Traum endet damit, dass ein Mann einen der Radiergummis ausprobiert, und die Radiergummikrümel vom Tisch fegt. Durch seinen Traum erkennt Henry, dass er das Baby auslöschen muss. Nach seinem Traum begegnet Henry abermals der Nachbarin, jedoch kommt es zu keiner Interaktion. Ebenso wie bei der Frau im Heizkörper wird auch zwischen Henry und der Nachbarin ein Shot-Reverse-Shot verwendet, diesmal um auszudrücken, dass das Baby in ihren Augen bereits Henrys Rolle auffüllt. Henry greift infolgedessen zur Schere und ermordet das wehrlose Baby.

Die Zerstörung des Planeten in "Eraserhead"

Durch die Ermordung des Babys gerät Henrys Welt aus den Fugen. Das Baby verwandelt sich quasi in ein Monster, sein Kopf wird plötzlich überdimensional groß, die Lichter beginnen zu flackern und Funken sprühen aus der Steckdose. Das Geschehen kulminiert in der - von Henry ersehnten – Zerstörung des Planeten, auf dem The Man in the Planet haust. Dieser versucht noch mit letzter Kraft, die Hebel herumzureißen, um die Zerstörung zu verhindern, scheitert jedoch. Durch den Tod des Man in the Planet wird Henry nicht mehr weiter kontrolliert und kann sich von seiner Welt lösen und mit der engelsgleichen Lady in the Radiator in den Himmel aufsteigen.

Die Vereinigung im Himmel

Mit „Eraserhead“ ist David Lynch ein Meisterstück gelungen, das wohl einer der wenigen Filme ist, der das Prädikat „einzigartig“ wirklich verdient. „Eraserhead“ zeigt, was selbst mit minimalistischem Budget möglich ist. Scheinbar ist selbst das Unmögliche möglich.