Samstag, 30. April 2011

Life and Suffering.

Ladri di biciclette
- Fahrraddiebe
(Vittorio De Sica, 1948)

Antonio Ricci (Lamberto Maggiorani) lebt zusammen mit seiner Frau Maria (Lianna Carell) und ihrem gemeinsamen Sohn Bruno (Enzo Staiola) im Arbeiterviertel der Stadt Rom, deren Wirtschaft - sowie die des gesamten krisengeschüttelten Italiens jener Zeit - von den Nachwirkungen des zweiten Weltkriegs schwer gezeichnet ist. Scharenweise betteln aufgebrachte Menschen um Geld, um Arbeit, die Lage ist hoffnungslos. Antonio wird jedoch wider Erwartens eine Stelle als Plakatankleber angeboten, welche er nur auszuüben in der Lage ist, sofern er im Besitz eines fahrtauglichen Fahrrades ist. Da Antonio, um seine Familie zu erhalten, sein Fahrrad erst kürzlich verpfändet hat, bittet er seine Frau, ihm bei der Wiederbeschaffung zu helfen. Zusammen mit Maria bringt er die gemeinsame Bettwäsche zum Pfandleiher, um das Fahrrad wieder auszulösen. Gemeinsam mit seinem Sohn, welcher als Schuhputzer ebenfalls das familiäre Einkommen aufbessert, startet er am nächsten Morgen seinen ersten Arbeitstag, wo er sich von seinem Vorgesetzten zeigen lässt, wie das Ankleben der Plakate funktioniert. Als sich Antonio anschließend erstmals selbstständig ans Plakatieren macht, wird ihm sein Fahrrad kurzerhand gestohlen. Aufgrund seiner Abhängigkeit vom entwendeten Objekt jagt Antonio dem Dieb nach, dieser kann jedoch aufgrund der Hilfe seiner Komplizen fliehen. Erschüttert vom Vorfall macht sich Antonio zusammen mit Bruno auf die Suche nach dem Rad, um seine Stelle nicht zu verlieren.

Der Begriff "neorealismo" wurde erstmals im Jahr 1942 verwendet und beschrieb damals den realitätsnahen, markant tristen Stil, welcher in Luchino Viscontis erstem Spielfilm "Besessenheit" (1942) erstmals zur Geltung kam. Inspiriert vom Poetischen Realismus Frankreichs, welcher im Zuge der wirtschaftlichen Krise Anfang der 1930er entstand, entwickelte sich der Italienische Neorealismus zu einer sowohl literarisch als auch filmisch bedeutenden Epoche, die eine künstlerische Antwort auf den Faschismus darstellte und auf die Missstände im Land Italien aufmerksam machte. Neben Visconti, der sechs Jahre nach seinem Erstlingswerk mit "Die Erde bebt" einen weiteren Meilenstein des Neorealismus auf die Leinwand zauberte, wirkten unter anderem auch Roberto Rossellini mit seiner Kriegstrilogie ("Rom, offene Stadt" (1945), "Paisà" (1946) und "Deutschland im Jahre Null" (1947)), Federico Fellini mit Werken wie "La Strada" (1954) und eben auch Vittorio De Sica mit, um nur eine handvoll zu nennen. Letzterer hatte sich besonders 1946 mit seinem Film "Schuhputzer" einen Namen gemacht. Der Film war beinahe ausschließlich mit Laiendarstellern und an Originalschauplätzen gedreht worden und wurde überraschenderweise ein internationaler Erfolg. "Schuhputzer" war so erfolgreich, dass David O. Selznick De Sica anbot, dessen nächsten Film zu produzieren und dafür Stars wie Cary Grant zu engagieren. De Sica lehnte ab, brachte das Geld selber auf und arbeitete abermals mit Laiendarstellern und an Originalschauplätzen um 1948 "Fahrraddiebe" zu inszenieren.

"Fahrraddiebe" ist ein düsteres Zeitzeugnis des Italiens der Nachkriegszeit. Das Arbeiterviertel, in dem die Geschichte spielt, ist eine triste Gegend, geprägt durch einfache Behausungen, brüchige Fußwege und Straßen und durch aufgebrachte, arbeitslose Männer, die um eine Anstellung regelrecht kämpfen müssen. Das familiäre Leben ist beinahe unmöglich, auch die Kinder müssen arbeiten, und selbst dann muss man sich noch mit allen Mitteln hinters Steuer klemmen, um die Familie versorgen zu können. Beim Pfandleiher herrscht reges Treiben, die Menschen verpfänden jedes entbehrliche Stück Hab und Gut, um Hoffnung schöpfen zu können. In Antonios Fall ist es das Opfer das Bettlaken; es ist das Aufgeben des Komforts, um sich in Form des Fahrrads eine neue Quelle der Hoffnung zu beschaffen. Doch das Opfer ist riskant, da diese Quelle am seidenen Faden hängt, wie sich später herausstellt. Selbst der kleine Bruno erkennt die Missstände im Land und beschwert sich darüber, im Wissen, dass andere Kinder ein weniger schweres Schicksal haben als er. Maria versucht ebenfalls Hoffnung zu schöpfen, besucht eine Wahrsagerin, die jedoch offensichtlich eine Hochstaplerin ist, die nur von der Naivität ihrer Kunden profitiert. Jeder Weg führt in einen Sog der Armut, Verzweiflung und Kriminalität.

Ein bedeutendes Motiv in De Sicas "Fahrraddiebe" ist die Einheit der Masse. Zu Beginn des Films wird eine Ansammlung klagender Männer gezeigt, die einen Arbeitsvermittler kritisieren, der nicht fähig ist, ihnen zu helfen. Nicht dabei in dieser Gruppe ist Antonio, er beklagt sich nicht, auch wenn es ihm keineswegs besser ergeht. Er sitzt abseits der Masse, und überhört sogar seinen Namen, als er vom Vermittler aufgerufen wird. Bereits in dieser Szene wird er als Optimist charakterisiert, eine Eigenschaft, die ihm beim Diebstahl eventuell zum Verhängnis wird. Er passt für einen Moment nicht auf sein Rad auf, welches sogleich entwendet wird. In der Szene des Diebstahls verliert Antonio erstmals seine Lockerheit, die Hektik wird ausgedrückt durch einen schnelleren Schnitt, und deutlich mehr Bewegung. Das Entkommen des Diebs wird durch sein Untertauchen in einer Menschenmenge in einem Tunnel ausgedrückt. Das Motiv der Masse findet sich auch in der Kirchenszene und am signifikantesten wohl in der Schlussszene wieder, welche ein vernichtendes Urteil über die italienische Gesellschaft der damaligen Zeit abgibt.

Vittorio De Sica lieferte mit "Fahrraddiebe" eines der eindrucksvollsten Werke der Filmgeschichte ab, ein zeitloses Werk, welches auch heute noch - oder vielleicht ganz besonders heute - einen unglaublichen Wert besitzt, denn auch im  21. Jahrhundert sind die Missstände in Italien spürbar, junge Menschen finden trotz ausgezeichneter Ausbildung keinen Job und das Nord-Süd-Gefälle des Wohlstands zieht auch heute noch Proteste und Demonstrationen nach sich. Was die Größe von De Sicas Film wohl zusätzlich verstärkt, ist ein Aspekt, welchen Rossellini  in seinen neorealistischen Werken stets fokussiert betrachtet hat: Die Last der problematischen Umstände auf die Kinder. Der Figur des Bruno dient in "Fahrraddiebe" auch als kindlicher Beobachter, durch den wir noch wesentlich mehr mitleiden als wir ohnehin schon täten. Und das wiederum verstärkt die Botschaft des Films erheblich, denn "Fahrraddiebe" vermittelt uns, dass es Umstände im Leben geben kann, aufgrund derer das Leid so groß wird, dass es uns Unsagbares tun lässt.

Hier möchte ich auch dankbar auf die beiden Besprechungen verweisen, die meine längst überfällige Sichtungen angekurbelt haben: 

Montag, 25. April 2011

You saw nothing in Hiroshima.

Hiroshima mon amour -
Hiroshima, mon amour
(Alain Resnais, 1959)

Eine namenlose verheiratete französische Schauspielerin (Emmanuelle Riva) begibt sich für den Dreh ihres nächsten Films nach Hiroshima. Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ist bereits über ein Jahrzehnt vergangen, die furchtbaren Ereignisse, die jenes Endes nach sich führten, sind jedoch nach wie vor in die Gehirne der Menschen eingebrannt. Hiroshima ist im Bewusstsein jedes einzelnen geblieben, der Bombenabwurf lässt selbst Jahre später jeden Betroffenheit fühlen. Direkt am Ort des Schreckens erinnert sie, die Schauspielerin, sich an das Geschehe, wird mit dem konfrontiert, was sie damals - großteils medial - miterlebt hat. Das was sie gesehen hat, hat sie aus Museen, aus Dokumentarfilmen und einem Besuch im Krankenhaus der betroffenen Stadt. Im Beisein eines japanischen Architekten (Eiji Okada), mit dem sie eine Affäre begonnen hat, schüttet sie ihr Bewusstsein aus, erinnert sich an all das, was sie mit der Stadt Hiroshima verbindet, doch er relativiert ihre Erinnerungen. Nichts habe sie gesehen, erklärt er ihr, gar nichts. Er war am Tag des Atombombenabwurfs aufgrund seines militärischen Diensts nicht in der Stadt, seine Familie hätte das Fürchterliche jedoch miterlebt, teilt er ihr mit.
Als sie am folgenden Tag erklärt, dass sie bereits sehr bald wieder zurück in ihre Heimat nach Paris fliegen werde, versucht er sie umzustimmen. Er bleibt bei ihr, verbringt den Tag mit ihr, und versucht sie besser kennenzulernen, worauf sie ihm eine traumatische Episode aus ihrer Vergangenheit in der französischen Stadt Nevers schildert.

Resnais' "Hiroshima, mon amour" zählt neben Truffauts "Sie küßten und sie schlugen ihn" (1959) und Godards "Atemlos" (1960) zu den ersten und wichtigsten Vertretern der französischen Nouvelle Vague. Gleichzeitig handelt es sich bei "Hiroshima, mon amour" um Resnais ersten Versuch im Spielfilm Fuß zu fassen. Zuvor war er als Dokumentarfilmer tätig, der besonders mit "Nacht und Nebel" (1955), einer Dokumentation über die sogenannte Nacht-und-Nebel-Aktion der Nationalsozialisten im zweiten Weltkrieg, bei der Widerstandskämpfer verschwanden und in Konzentrationslager deportiert wurden, einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte. "Hiroshima, mon amour" war zu Beginn ebenfalls als Dokumentarfilm konzipiert, Resnais Überzeugung, dass der Horror des Bombenabwurfs in filmischer Verarbeitung jedoch nicht begreifbar sei, war jedoch ausschlaggebend, dass dem Film noch eine fiktionale Ebene hinzugefügt wurde. Zwar arbeitet "Hiroshima, mon amour" anfangs mit realen Archivaufnahmen zu den Auswirkungen des Bombenabwurfs, jedoch geht dies nur fragmentarisch vonstatten, stets im Bezug zur fiktionalen Komponente des Films. So entstand mit "Hiroshima, mon amour" Resnais erster Spielfilm, lose nach dem Vorbild des Nouveau Roman orientiert, einer experimentellen Literaturform, die erzählerischen Grenzen der Kausalität, des Raums und der Zeit sprengten. Diese Anlehnung auf besagte literarische Gattung ist zurückzuführen auf Marguerite Duras, die oscarnominierte Drehbuchautorin des Films, welche sich bereits Jahre zuvor als Nouveau-Roman-Autorin einen Namen gemacht hatte. Zwei Jahre später folgte mit "Letztes Jahr in Marienbad" ein Film Resnais', der sich noch konsequenter an den Nouveau Roman anlehnte.

Aufgrund seiner eindrucksvollen Schnitttechnik und seines perfekten Einsatz von Rückblenden, deren fließendes Zusammenspiel mit der gegenwärtigen Komponente des Films besonders auffällt, zählt "Hiroshima, mon amour" zu den Mitbegründern der Nouvelle Vague. Besonders der Einsatz vom Match Cuts, welche in diesem Fall häufig Assoziationen der Protagonistin mit ihrer Vergangenheit andeuten, kennzeichnet Resnais' "Hiroshima, mon amour". 

Match Cut in "Hiroshima, mon amour"
Wiederholt deutet Resnais Verbindungen zwischen der Geschichte der Protagonistin und den Vorfällen in Hiroshima an. Die Vergangenheit der weiblichen Hauptfigur dreht sich um ihre Liebe zu einem deutschen Soldaten, für die sie von den Bewohnern der Stadt Nevers verstoßen wird. Man sperrt sie einen Keller, schneidet ihre Haare ab und hört nicht auch ihre Hilferufe. Besonders das Abschneiden der Haare erinnert an den Haarausfall als Reaktion auf die radioaktive Strahlung. Tatsächlich weist Resnais bereits zu Beginn des Films während des Monologs der Protagonistin auf besagte Reaktion in Form einer Archivaufnahme hin. Auch das Eingschlossensein im Keller stellt eine Parallele zur Nachwirkung des Bombenabwurfs dar, denn der Keller wirkt ähnlich zertrümmert, einengend, und düster wie das mögliche Innenleben einer Ruine. Auch das erste Bild des Films, die beiden Liebenden eingedeckt von Asche, stellt den Bezug zur Katastrophe her.

Erste Einstellung in "Hiroshima, mon amour"
"Hiroshima, mon amour" zu beschreiben, einzuordnen oder gar zu interpretieren, fällt schwer, da er sich nicht nach filmischen Konventionen richtet, keine Geradlinigkeit aufweist und selbst die Thematik nicht vollkommen klar hervorgeht. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Protagonisten ist mehr als nur eine Liebelei, am deutlichsten wohl spürbar in der Tatsache, dass die beiden - wie schon die Hauptfiguren in "Letztes Jahr in Marienbad" - keine Namen tragen. Resnais außergewöhnliches Schaffen bleibt unbegreiflich vielseitig, so auch "Hiroshima, mon amour", wobei die Kritik der "Der Spiegel"-Ausgabe 18/1960 den Film wohl am besten beschreibt:
"'Hiroshima, mon amour' ist gefilmtes Bewußtsein."

Sonntag, 17. April 2011

Der sichtbare Teil des Himmels.

Das weisse Rauschen
(Hans Weingartner, 2001)

Das ländliche Dorf, in welchem Lukas (Daniel Brühl) sein gesamtes Leben verbracht hat, beginnt den jungen Maturanten anzuöden, die Chancen dort etwas aus sich zu machen, sind zu klein, er strebt Größeres an. Seine ältere Schwester Kati (Anabelle Lachatte) hat einst das Selbe durchgemacht und ist infolge ihres erfolgreichen Abschlusses nach Köln gezogen, wo sie nachwievor lebt und studiert. Um ihrem Bruder, der nach dem Suizid der Mutter zusammen mit dem Vater das Haus der gemeinsamen Kindheit bewohnt, aus den Fesseln des philiströsen Lebens der Kleinstadt zu befreien, bietet Kati ihm an, bei ihr und ihrem Freund Jochen (Patrik Joswig) einzuziehen und in Köln ein Studium aufzunehmen. Lukas nimmt die Offerte an. Von der ländlichen Umgebung geprägt, präsentiert sich Köln für den Abiturienten als hektischer Hexenkessel. Dröhnender Baustellenlärm, stockender Verkehr, Stress und ein reges Nachtleben. Im Beisein seiner Schwester und ihres Freundes greift er das erste Mal zu Drogen und verbringt die Nacht  im Vollrausch mit seinen beiden Mitbewohnern. Im Zuge dessen verliert  Lukas den Halt. Der Traum, sich ins Gefüge der Universität einzuleben, misslingt, dennoch bleibt er in Köln, wo er auf einer Party Annabell (Katharina Schüttler) kennenlernt. Er lädt sie ins Kino ein, wo sich die beiden Scorseses "Taxi Driver" ansehen wollen, als sie an der Kasse jedoch erfahren, dass besagter Film an jenem Abend gar nicht gezeigt werden würde, rastet Lukas vor seinem Date aus, beginnt zu randalieren und bewegt seine Begleitung dazu vor ihm zu fliehen. Lukas' Verhalten wird zunehmend aggressiver und gipfelt nach dem Konsum psychoaktiver Pilze in einer hysterischen Attacke, in der der junge Mann erstmals Stimmen in seinem Kopf hört, die ihn fortan immer häufiger traktieren.

Der österreichische Regisseur Hans Weingartner studierte ursprünglich Physik in Wien, stieg jedoch bereits nach einem Jahr auf das Studium der Neurowissenschaften um, welches er 1997 erfolgreich im Berlin abschloss. Während seines Studiums in Wien ließ er sich zwischen 1993 und 1994 zum Kameraassistenten ausbilden, was ihm 1995 zugute kam, als er als Produktionsassistent für Richard Linklaters "Before Sunrise" (1995) arbeiten und sogar einen Kurzauftritt absolvieren durfte. 1997 ging er nach Köln, wo er auf der Kunsthochschule für Medien Köln bis 2000 studierte und mit "Das weisse Rauschen" seinen ersten Spielfilm ablieferte, der gleichzeitig als Absolventenfilm diente, und bei zahlreichen Festivals Preise abräumte. Seinen Status als talentierten jungen Filmemacher festigte der Österreicher in den darauffolgenden Jahren mit "Die fetten Jahre sind vorbei" (2004), "Free Rainer" (2007) und "Gefährder", welcher ein Teil des deutschen Kurzfilmprojekts "Deutschland 09" war.

"Das weisse Rauschen" kennzeichnet sich - wie mit Abstrichen auch die späteren Werke Weingartners - durch seinen minimalistischen Stil, welcher hier im Gegensatz zu seinen aktuelleren Filmen jedoch zwingend war. Das Budget von knapp über 40.000 Mark ließ dem damals 31-jährigen keine andere Wahl, als den Film ganz im Stile des Dogma 95 mit einer (digitalen) Handkamera zu drehen. Selbstredend beschritt Weingartner in seinem Debütfilm kein unbekanntes Terrain, denn durch seine Arbeit auf dem Sektor der Neurologie bot sich die Schizophrenie als vertrautes Thema und perfekte Vorlage an. Tatsächlich gelingt es dem Film bereits durch seine kamerabedingt befreite Wirkung jene Materie viel bedrückender darzustellen als wesentlich prominentere Filme wie zum Beispiel "A Beautiful Mind" (Ron Howard, 2001). Bereits in einem Zitat der Hauptfigur aus dem Off fasst sich Weingartners Film in seiner Botschaft selbst zusammen: 
"Für die Ärzte war ich schizophren, für die meisten anderen einfach nur ein Spinner. Mir war das eigentlich egal, wie die Leute mich nennen. Wonach ich suchte, das war ein Leben, das ich führen kann."
Auch Daniel Brühl, dessen Karriere durch "Das weisse Rauschen" erst so richtig in Fahrt kam, muss man loben, sein Spiel stellt die resistente Stütze des Films dar. In manchen Punkten erkennt man jedoch deutlich, dass es sich bei "Das weisse Rauschen" um einen Debütfilm haltet. So schleichen sich hier und da kleinere und größere Continuity-Ungereimtheiten ein und auch im Drehbuch finden sich Unklarheiten, wie zum Beispiel in der Kindheit des Geschwisterpaars mit seinen Eltern. Was dem Film ebenfalls etwas schadet ist der Versuch eine Verbindung zwischen der Schizophrenie und dem Spirituellen herzustellen. Der Film bringt den Pfad der Erleuchtung zur Sprache und erklärt die Bedeutung des "Weissen Rauschens" als Sammlung "aller Visionen, aller Menschen, aller Zeiten in einem Augenblick". Außerdem sei es "der ultimative Trip". Diese Darstellung der Schizophrenie als metaphysisches, transzendentes Erlebnis erschwert den Zugang zum Film auf unnötige Art und Weise.

"Das weisse Rauschen" ist dennoch ein couragierter Film, der auf den Druck, der auf schizophren-psychotischen Patienten lastet, aufmerksam macht, und durch einen Bruch der vierten Wand am Ende des Film auch einen angenehm appellierenden Nachgeschmack beinhaltet.

Mittwoch, 13. April 2011

Aktion deutscher Film.

Der minimalen Präsenz Deutscher, Österreichischer und Schweizer Produktionen im Internet entgegenzuwirken, ist generell eine hervorragende Idee, die Organisation einer derartigen Aktion darf jedoch keinesfalls unterschätzt werden. Der werte Blogger-Kollege Intergalactic Ape-Man entschied sich mit der von ihm gegründeten Aktion deutscher Film dennoch, den administrativen Part einer derartigen Unterstützung des Deutschen, Österreichischen und Schweizer Films zu übernehmen. Dafür möchte ich ein großes Lob aussprechen und mich in Form der Teilnahme an besagter Aktion unterstützend für die Organisation bedanken. Vielen Dank!

Neben dem russischen bzw. sowjetischen und dem französischen Kino zählt das deutsche wohl innerhalb Europas zu den einflussreichsten, und wirkte auch  erheblich auf die amerikanische Filmgeschichte durch zahlreiche Regie-Exporte ein. Trotz einer Großzahl an Klassikern, die der deutschsprachige Film zu Buche stehen hat, ist es in den letzten Jahren eher ruhig um ihn geworden. Ich möchte hier keinesfalls die beiden Auslandsoscar-prämierten Filme "Das Leben der Anderen" (Florian Henckel von Donnersmark, 2006) und "Die Fälscher" (Stefan Ruzowitzky, 2007) unterschlagen, die jeweils für Furore gesorgt haben, trotzdem, die Weltmacht, die man einst gewesen ist, ist man nun leider nicht mehr. Zumindest nicht, was die internationale Aufmerksamkeit angeht, die sich momentan (zu Unrecht) von D/Ö/S-Produktionen abwendet, obwohl unter ihnen unterschätzte oder kaum wahrgenommene Perlen liegen, die es zu entdecken gibt. Meine 10 (chronologisch geordneten) Lieblingsfilme, beinhalten einerseits neuere Filme aus den besagten Produktionsländern, erinnern jedoch  andererseits auch an den ein oder anderen Stummfilmklassiker.

- Das Cabinet des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1920)
- Metropolis (Fritz Lang, 1927)
- M - Eine Stadt sucht einen Mörder (Fritz Lang, 1931)
- Es geschah am hellichten Tag (Ladislao Vajda, 1958) 
- In einem Jahr mit 13 Monden (Rainer Werner Fassbinder, 1978)
- Fitzcarraldo (Werner Herzog, 1982)
- Der Himmel über Berlin (Wim Wenders, 1987)
- Funny Games (Michael Haneke, 1997)
- Hundstage (Ulrich Seidl, 2001)
- Revanche (Götz Spielmann, 2008)

Ich hoffe, es ist kein Problem, dass ich eine Liste ohne Reihung vorlege; mir fallen derartige wertungsorientierte Reihungen  momentan eher schwer. Auch die Auswahl der letztendlichen Top 10 war nicht ganz einfach, da man im D/Ö/S-Film noch einige Schmuckstücke aufzählen könnte. Ich hoffe dennoch, dass alles in Ordnung geht.

Samstag, 2. April 2011

In Heaven everything is fine.

Eraserhead
(David Lynch, 1977)
Eine postapokalyptische Szenerie: Auf einem scheinbar völlig entseelten Planeten befindet sich inmitten einer endlosen von Kratern übersäten Landschaft eine Blechhütte. In ihr sitzt vor einer Reihe von Hebeln und Schaltern ein entstelltes Geschöpf (Jack Fisk), das fähig ist, die Geschehnisse auf seinem Planeten durch die Betätigung der Armaturen zu beeinflussen. 
In einem desolaten Städtchen, dessen Erscheinung stark durch die garstige Omnipräsenz umliegender, industrieller Anlagen und Fabriken geprägt ist, lebt Henry (Jack Nance), ein Buchdrucker, der eine minimalistische Bleibe in einem schaurigen Appartementgebäude behaust. Als er eines Tages nach Hause kommt berichtet ihm seine, ihm bis dato unbekannte, Nachbarin (Judith Anna Roberts), dass er während seiner Abwesenheit einen Anruf von seiner Freundin Mary (Charlotte Stewart) erhalten habe. Diese hat ihn, wie sich herausstellt, trotz längerer Funkstille aus heiterem Himmel zum Dinner mit ihrer Familie eingeladen. Trotz seiner sozialen Schwerfälligkeit kann sich Henry zum unerwarteten Treffen überwinden, und erfährt dort, dass Mary ein Frühgeborenes zur Welt gebracht hat, dessen Vater er zu sein scheint. Das Elternpaar zieht zusammen mit dem Baby in Henrys Appartement, wo sich der bereits abzeichnende Albtraum entfaltet und sich die Stadt in einen regelrechten Moloch verwandelt, der Henry in einen bodenlosen Abgrund stößt.

Bereits ab Mitte der 60er lieferte David Lynch mit seinen ersten Kurzfilmen durchaus ambitionierte Werke ab, die zum Teil Motive beinhalteten, die sich auch in seinem späteren Schaffen wiederfinden. Sein erster Schritt auf filmischem Boden war  der tinnitus-ähnliche "Six Men Getting Sick (Six Times)" (1966), der mehr ein Experiment darstellt als einen zielstrebigen Versuch sich filmisch zu betätigen.  Lynch, ein passionierter Maler, erklärte später, dass sein damaliges Ziel jenes gewesen war, Bewegung in seine Gemälde zu bringen. Zwei Jahre später folgte der groteske "The Alphabet", der auf einem Traum  der Nichte  von Lynchs damaliger Ehefrau basiert. 1970 präsentierte David Lynch seinen erschütternden etwa 30-minütigen Kurzfilm "The Grandmother" über einen bettnässenden Jungen, der von seinen Eltern für sein Problem regelrecht gequält wird und sich als Flucht vor dem Alltag aus einem Pflanzensamen und einem Haufen Erde eine Bezugsperson, eine Großmutter erschafft. "The Grandmother" war Lynchs erster Film, der versuchte, eine richtige Handlung zu inkludieren, und dieser zu folgen. "The Amputee" (1974) unterbrach die Dreharbeiten zu Lynchs "Eraserhead" und stellte gleichzeitig die letzte Vorarbeit zu dessen Veröffentlichung dar. "Eraserhead" erschien drei Jahre später und war  ein  regelrechtes Mammutprojekt, ein Meilenstein des amerikanischen Independent-Kinos, der Lynch später in die Riege der eindrucksvollsten Surrealisten des Kinos hieven sollte.

"Eraserhead" war kein Mammutprojekt im finanziellen Sinne. Bei einem Budget von 10.000$ ließe sich eher vom Gegenteil sprechen. Was den Film jedoch so bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass er eine eindrucksvolle Demonstration von künstlerischer Beharrlichkeit darstellt, die sich für Lynch auf lange Sicht wohl zweifellos ausgezahlt hat. Über sechs Jahre Drehzeit mit minimalistischen Mitteln; Freunde Lynchs, die im Grunde jede Position sowohl vor als auch hinter der Kamera auffüllten; der ursprünglich engagierte Kameramann Herbert Cardwell, der unter ungeklärten Umständen, neun Monate nach Beginn des Drehs verstarb; dies sind nur eine handvoll Fakten, die Lynchs "Eraserhead" bereits durch seine Schaffensgeschichte zu einem Mysterium machen. Was Lynchs ersten Spielfilm jedoch wohl am meisten kennzeichnet und ein unheimliches Interesse nach sich zieht, ist das ominöse Baby, das Frühgeborene. Bis heute ist sowohl ungeklärt, wie das Baby  wirklich gemacht wurde, als auch wie Lynch die Motorik seiner Figur so realistisch steuern konnte. Die Veröffentlichung von Lynchs "Eraserhead" stellte sich finanziell zu Beginn als Flop heraus, der Film wurde in Kinos aufgrund seines Inhalts nur in Spätvorstellungen (siehe Midnight Movies) gezeigt, wo er unter Fans langsam Kultstatus erreichte. Den letzten Griff unter die Flügel Lynchs tätigte jedoch Mel Brooks, der von Lynchs Erstlingswerk so begeistert war, dass er dem jungen Regisseur infolgedessen die Regie zu - dem später achtfach oscarnominierten - "The Elephant Man" verschaffte.

Lynch selbst verweigert noch heute jeglichen Kommentar zur Interpretation seines Films, wodurch rund um „Eraserhead“ zahlreiche Deutungen entstanden sind. Lynch selbst hat lediglich betont, dass der Schlüssel zum Film ein Bibelvers sei, und dass „Eraserhead“ somit sein spirituellster Film sei. Wie so oft bei Lynch, lassen einen selbst zahllose Sichtungen seines Films eher ratlos zurück, ich werde dennoch versuchen, den Film meiner Auffassung und Rezeption entsprechend zu interpretieren und hier darzulegen, weswegen ich ab hier aufgrund massivster Spoiler warne.

Der Planet in Henrys Kopf
"Eraserhead" beginnt mit einem metaphorischen Bild vom Kopf Henrys, der einen Planeten in sich aufnimmt. Auf diesem Planeten befindet sich in einer Blechhütte der entstellte The Man in the Planet (Jack Fisk). Der Intercut zwischen Henrys Haupt und dem Geschehen auf dem Planeten deutet an, dass sich besagtes primär in Henrys Kopf abspielt. Die Aufnahme des Planeten in den Kopf kann als Gedanken, den Henry in sich aufnimmt, oder als Erkenntnis, die ihm kommt, gelesen werden. Nachdem The Man in the Planet auf dem Planeten lokalisiert wird, folgt ein Schnitt zurück zu Henry, aus dessen Kopf der Planet nun gewichen ist und stattdessen ein spermatozoonähnliches Gebilde in ihm zappelt. Zu beachten ist, dass - im Gegensatz zur Einstellung, in der die Verbindung zwischen Henrys Kopf und dem Planeten angedeutet wird - die Mimik Henrys nun im Beisein des Spermatozoons ängstliche, besorgte Züge annimmt. The Man in the Planet beobachtet das Geschehen rund um Henrys Kopf scheinbar durch das Fenster seiner Behausung. Angeregt durch die Präsenz des Spermiums wendet er sich den sich vor ihm befindenden Hebeln zu und zieht an ihnen. Was folgt ist die Entfernung der Samenzelle aus Henrys Abbild, hinein in eine Pfütze auf dem Planeten; eine Abfolge, die sich als Befruchtung deuten lässt. Es folgt eine Nahaufnahme in die Pfütze, die in eine Weißblende übergeht und den ersten Teil des Films abschließt.

Die angedeutete Befruchtung in "Eraserhead"

Im Anschluss folgt die dialoglose Einführung Henrys als Hauptfigur und eine Skizzierung der Welt, die ihn umgibt. Es handelt sich dabei um eine ausladende, abstoßende Gegend, umgeben von zahllosen Fabriken, dreckigen Wegen und haushohen Mauern. Auch das Gebäude, in dem sich Henrys Appartement befindet, wirkt scheußlich, die Lampen spenden unzureichendes Licht, um den Vorraum zu erhellen, Fenster scheint man vergeblich zu suchen und selbst das Muster des Bodens wirkt beklemmend (jenes Muster kennzeichnet übrigens auch den Red Room in „Twin Peaks“ und „Twin Peaks – Fire Walk with me“). Henrys Bewegungen in jenem Gebäude wirken mechanisch, trotz der Dunkelheit stapft er unbemüht durch den Vorraum, es folgt ein obligater Griff in das - wie immer - leere Postfach und der Gang in den klapprigen alten Aufzug. Im Korridor vor seiner Wohnung wird er – scheinbar zum ersten Mal – von seiner Nachbarin angesprochen, die ihn fragt, ob er Henry sei. Als dieser jene Frage bejaht, erklärt die namenlose Nachbarin, es habe eine „Mary“ angerufen, die Henry noch an jenem Abend zum Dinner einladen würde. Sichtlich geschockt vom ersten Treffen mit seiner Nachbarin zieht sich Henry in seine bescheidene Bleibe zurück.  
Die industriell dominierte Welt in "Eraserhead"
Die Wohnung unterscheidet sich in ihrem Aussehen im Grunde gar nicht von der Erscheinung ihrer Umgebung. Ihr einziger, im Film sichtbarer Raum besitzt zahllose dunkle Winkel, das Mobiliar beschränkt sich aufs Nötigste und Pflanzen gibt es wie ihm umliegenden Areal nur begrenzt, im Fall von Henrys Wohnung nur in Form von Moos- und Dreckhügeln, die den Raum an Stelle von Topfpflanzen schmücken. Alleine in Henrys Wohnung finden sich zahlreiche Bezüge zu Lynchs vorhergehenden Kurzfilmen: das Motiv des Organischen aus „The Grandmother“, die durch Mark und Bein gehende Soundkulisse aus „Six Men Getting Sick“ und die kafkaeske Bedrohlichkeit des Bettes aus „The Alphabet“, die sich besonders später im Film wiederfinden lässt. So skurril es aufgrund der sozialen Abgeschiedenheit der Hauptfigur Henry auch klingen mag, er fügt sich in seine Umwelt ein, im Grunde nahtlos sogar, einzig die Konversation mit seiner Nachbarin stellt einen Bruch in seinem absonderlichen Wohlbefinden dar.

Der Empfang des Appartmentgebäudes in "Eraserhead"

Beim Treffen mit seiner Freundin und deren Eltern deutet Henry an, dass er Mary seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hat. „You never come around anymore“, wirft er ihr vor, die darauf keine Antwort zu geben weiß. Das Haus der Familie ist ebenfalls absonderlich, liegt direkt an den Gleisen einer Eisenbahn und ist ebenso düster und ausladend. Während des Dinners wird Henry dazu aufgefordert ein Hühnchen, das auffällig klein ist, anzuschneiden. Als er mit der Gabel in die Mahlzeit sticht, trieft Blut heraus und das tote Tier beginnt sich zu bewegen. Marys Mutter reagiert darauf mit einem Anfall, während die Kamera in eine extreme Nahaufnahme der Austrittswunde des Bluts wechselt, die automatisch den Bezug zum Beginn des Films und der allegorischen Darstellung der Befruchtung herstellt. Nach einem Gespräch unter vier Augen mit dem Vater Marys wird Henry von Marys Mutter zur Rede gestellt. Sie will von ihm wissen, ob er mit ihrer Tochter Geschlechtsverkehr gehabt habe. Während der Konfrontation beginnt Henrys Nase zu bluten, was eventuell auf die Erinnerung an die Szenerie auf dem Planeten zu Beginn des Films zurückzuführen ist. Ob es sich bei dem Geschehen zu Beginn des Films um einen Traum oder vielleicht auch einen Gedanken handelt, wird nicht näher erklärt, jedoch dient er Henry als Zukunftsvision. Die angedeutete Befruchtung hat wirklich stattgefunden, worauf bereits während des Dinners durch das blutende Hühnchen hingewiesen und durch die Konversation mit der Mutter bewiesen wird. Durch die Feststellung, dass sich seine Vision bewahrheitet hat, leidet Henry unter einer Art kognitiver Dissonanz, einem Störgefühl, welches durch das Nasenbluten ausgedrückt wird. Jedoch öffnet ihm diese Erkenntnis gleichzeitig eine Tür, die ihn – eventuell nur unterbewusst – wissen lässt, dass er das Zentrum einer von ihm erdachten, einer solipsistischen Welt bildet. Wenn man so will, nimmt er dadurch eine gottgleiche Position ein, ist sich dessen jedoch selbst nicht bewusst. Seine Vision zu Beginn des Films deutet jedoch an, dass er vom The Man in the Planet mithilfe der Armaturen gesteuert wird. Eine anschließende Kamerafahrt durch das Wohnzimmer des gastgebenden Familie – in dem sich nun ebenfalls die Ansammlungen von Dreck befinden, die wir bereits aus Henrys Wohnung kennen – deutet Veränderungen an, während die anschließende Schwarzblende einen größeren zeitlichen Sprung erahnen lässt.

Das Baby lebt nun bereits zusammen mit Mary in Henrys vier Wänden. Als Henry sein Postfach überprüft, findet er darin eine kleine Schachtel, die eine Art Wurm beinhaltet. Er denkt nicht daran, die Zusendung seiner Freundin zu zeigen. In einer der folgenden Szenen blickt Henry auf den Heizkörper in seinem Zimmer und erkennt dahinter eine kleine, leere Bühne, auf der im späteren Verlauf des Films The Lady in the Radiator ihren Auftritt haben wird. Henry erkennt hier bereits, dass jemand versucht mit ihm in Kontakt zu treten.

Die Bühne hinter dem Heizkörper

In der folgenden Nacht hört das Baby nicht auf zu schreien, worunter sowohl Mary als auch Henry schwer leiden. Mary hält das Zusammenleben nicht mehr aus und flieht. Noch in der selben Nacht erkrankt das Baby. Falls es sich bei Henrys Umwelt wirklich nur um eine von ihm erschaffene Welt handelt - was erklären würde, warum er sich in dieses absonderliche Umfeld zu perfekt einfügt – so wäre es möglich, dass das Baby als Produkt Henrys im Gegensatz zu allen anderen Geschöpfen in dieser Welt aktiv am Geschehen teil hat und fähig ist, jenes zu verändern. Wenn das Baby nun erkennt, dass Henry mit einer parallelen Welt/Realität zu kommunizieren versucht, so würde es versuchen, dies zu verhindern, um seine eigene Existenz zu schützen. Die Erkrankung des Babys könnte somit als Versuch gedeutet werden, Henry vom Vorhaben der Kommunikation mit dieser Parallelrealität abzuhalten, indem das Wesen Henry dazu bringt, sich um es zu kümmern. Dieses Vorhaben gelingt scheinbar nur temporär, denn Henry wirft später in jener Nacht einen Blick in seinen Schrank, wo er den oben erwähnten Wurm versteckt hat. Um zu überprüfen, ob er eine derartige Zusendung noch einmal empfangen habe, zieht sich Henry seinen Mantel an, um das Postkästchen aufzusuchen. Ein lautes Weinen des Babys jedoch verhindert Henrys Verlassen der Wohnung, woraufhin er bei seinem Baby bleibt. Vor dem Einschlafen kommt es dennoch zur erneuten Interaktion zwischen Henry und der zweiten Welt. Im Heizkörper wird abermals die kleine Bühne beleuchtet, doch diesmal ist The Lady in the Radiator dort. Sie tänzelt auf der Bühne herum, während von oben übergroße Spermatozoen (die gleichen wie das eine zu Beginn des Films) auf die Bühne fallen. Sie zertretet die herabfallenden Spermien und fordert Henry auf diese Weise zur postnatalen Abtreibung, oder - einfacher gesagt - zum Mord des Kindes auf. 

Das für Lynch typische Eintauchen in eine andere Welt
in "Eraserhead"

In der anschließenden Szene erwacht Henry zwar, träumt dies jedoch nur. Diese Tatsache wird durch die Anwesenheit Marys ausgedrückt, die plötzlich wieder neben ihm im Bett liegt. Zwischen sich und seiner Freundin findet Henry nun ähnliche Spermatozoen wie jene, die von der Frau im Heizkörper zertreten wurden. Wie aufgetragen, zerstört er sie, indem er sie an die Wand wirft. Der Traum könnte auch als Erinnerung an den Beischlaf gedeutet werden, aus welchem resultierend das Baby hervorgegangen ist. Henry wünscht sich demnach, dass das Baby niemals geboren worden wäre. Innerhalb des Traumes kommt es abermals zur Konnexion mit der Parallelwelt, welche durch das für Lynch typische Eintauchen in eine andere Welt eingeleitet wird. Zuerst trifft Henry in seinem Traum auf seine Nachbarin, mit der er im Anschluss sexuell verkehrt. Der Akt wird jedoch plötzlich unterbrochen von einem Lied der Lady in the Radiator. Ein Auszug aus dem Text jenes Songs:
„In Heaven, everything is fine
In Heaven, everything is fine
In Heaven, everything is fine
You've got your good things, and I've got mine“
Henry folgt ihr auf die Bühne und steht ihr gegenüber. In einer Schuss-Gegenschuss-Montage verschwindet sie jedoch und anstelle ihrer erscheint The Man in the Planet. Der Traum offenbart Henry also, dass, solange The Man in the Planet existiert, es ihm nicht gelingen kann, The Lady in the Radiator zu erreichen und mit ihr den Himmel zu beschreiten. Im Anschluss folgt im Traum eine Szene, in der Henrys Kopf sich vom Körper trennt und in einer Blutlache auf der Bühne liegen bleibt. Anstelle von Henrys Kopf wird Henrys Torso nun vom Kopf des Babys geschmückt, was andeuten soll, dass, wenn Henry nicht handelt, das Baby seine Position in der absonderlichen Welt einnehmen wird. Sein Kopf wird im Anschluss in einer Fabrik zu Radiergummiaufsätzen für Bleistifte verarbeitet. Der Traum endet damit, dass ein Mann einen der Radiergummis ausprobiert, und die Radiergummikrümel vom Tisch fegt. Durch seinen Traum erkennt Henry, dass er das Baby auslöschen muss. Nach seinem Traum begegnet Henry abermals der Nachbarin, jedoch kommt es zu keiner Interaktion. Ebenso wie bei der Frau im Heizkörper wird auch zwischen Henry und der Nachbarin ein Shot-Reverse-Shot verwendet, diesmal um auszudrücken, dass das Baby in ihren Augen bereits Henrys Rolle auffüllt. Henry greift infolgedessen zur Schere und ermordet das wehrlose Baby.

Die Zerstörung des Planeten in "Eraserhead"

Durch die Ermordung des Babys gerät Henrys Welt aus den Fugen. Das Baby verwandelt sich quasi in ein Monster, sein Kopf wird plötzlich überdimensional groß, die Lichter beginnen zu flackern und Funken sprühen aus der Steckdose. Das Geschehen kulminiert in der - von Henry ersehnten – Zerstörung des Planeten, auf dem The Man in the Planet haust. Dieser versucht noch mit letzter Kraft, die Hebel herumzureißen, um die Zerstörung zu verhindern, scheitert jedoch. Durch den Tod des Man in the Planet wird Henry nicht mehr weiter kontrolliert und kann sich von seiner Welt lösen und mit der engelsgleichen Lady in the Radiator in den Himmel aufsteigen.

Die Vereinigung im Himmel

Mit „Eraserhead“ ist David Lynch ein Meisterstück gelungen, das wohl einer der wenigen Filme ist, der das Prädikat „einzigartig“ wirklich verdient. „Eraserhead“ zeigt, was selbst mit minimalistischem Budget möglich ist. Scheinbar ist selbst das Unmögliche möglich.