Montag, 28. März 2011

Murder as a form of art.

Rope - Cocktail für eine Leiche
(Alfred Hitchcock, 1948)

Die, in ihrem Weltbild bestehende, moralische Überlegenheit des Übermenschen zelebrierend ermorden die beiden Studenten Brandon (John Dall) und Phillip (Farley Granger) ihren ehemaligen Klassenkameraden David (Dick Hogan) und feiern ihre Tat auf makaberste Weise, indem sie das nähere private Umfeld des Opfers auf eine Party einladen. Neben den Eltern fordern sie seine Freundin, deren Ex-Freund und nahestehenden Genossen der Leiche, Cadell (James Stewart), der einer ihrer ehemaligen Lehrer ist, und als Vorwand auch die Leiche selbst zum Kommen auf. Bevor die Festivität jedoch ihren Anfang findet, arrangieren die beiden Mörder das Buffet um, verstecken die Leiche in einer Holztruhe und richten das Festmahl auf der geschlossenen Kiste an, um ihre Selbstzelebrierung auf die Spitze zu treiben. Cadell war derjenige, der die beiden philosophisch geprägt hat, der ihnen die "Kunst des Mordes" eingetrichtert und  - nicht wissend - den Grundstein zu ihrer furchtbaren Tat gelegt hat. Während der Party entsteht eine angespannte Stimmung, ausgelöst einerseits durch das Nichterscheinen der Mutter Davids, deren Platz als Begleiterin des Vaters stattdessen ihre Schwester einnimmt, und andererseits auch durch das unfreiwillige Wiedersehen des ehemaligen Paares. Auf die Spitze getrieben wird die ungemütlicher Atmosphäre durch eine hitzige Diskussionen über die Theorie des Übermenschen, an der Phillip, durch die Tat verunsichert, den Verstand vollständig zu verlieren scheint. Durch sein anschwellendes Gefühl der Schuld droht er den perfekten Mord der beiden auffliegen zu lassen. 

"Rope" wird oft als eher experimentelles Werk des englischen Regiekünstlers betrachtet, was Hitchcock in späteren Jahren sogar selbst untermauerte. Bei diesem 1948 erschienenen Film handelt es sich sowohl um Hitchcocks ersten Farbfilm als auch um seine kinematografisch ambitionierteste Arbeit. Der in nur elf Einstellungen abgedrehte Film wird von Cineasten besonders durch seinen konsequenten Einsatz des continuity editings (auch unsichtbarer Schnitt genannt) hoch eingeschätzt. Durch die limitierte Länge des Filmmaterials, das im Magazin der damaligen Kameras Platz fand, war es Hitchcock nicht möglich "Rope" in noch längeren Takes abzufilmen, wodurch er sich dazu gezwungen sah, zumindest die Illusion derartiger Planeinstellungen zu evozieren. Dies gelang ihm durch jene oben bereits genannten unsichtbaren Schnitte, die er verwirklichte, indem er die Linse durch einen extremen Zoom oder einen vorbeilaufenden Charakter kurz blockierte, um die Rollen zu wechseln und die Szene anschließend wieder fortzusetzen. Im Final Cut finden sich sowohl fünf gewöhnliche, harte Schnitte, als auch fünf unsichtbare. 

Den einzigen Achsensprung, den man im Film miterlebt, findet sich bereits als Schnitt zwischen den ersten beiden Szenen. Die erste Einstellung ist die einzige die nicht innerhalb des Studios gedreht wurde, sondern einen statischen Blick vom Dach einen Hauses hinunter in die Straßen wirft. Der Szenenwechsel wird in ihr bereits akustisch durch den typisch Hitchcock'schen Schrei des Opfers eingeleitet. Die Kamera wendet sich anschließend vom Geschehen der Straße ab und nimmt ein Fenster ins Bild, das sie beim Achsensprung quasi "durchspringt". Durch das direkt folgende Close-Up des Opfers entmystifiziert Hitchcock den einleitenden Schrei und führt uns erst dann in die Geschichte ein, die Hintergründe nur langsam offenbarend. Interessant ist, dass "Rope" deutlich länger wirkt, als er tatsächlich ist, ohne dass ich dem Film hier eine Langatmigkeit unterstellen möchte. Fakt ist, dass der Film durch seine Entwicklung und Dialoglastigkeit ein Gefühl von einer Laufzeit von 80 Minuten leicht übersteigt. In seinem famosen Interview mit François Truffaut hat Hitchcock einst sogar ausgesagt, dass das Geschehen im Film etwa eine Zeit von 100 Minuten einnimmt, und trotz seiner Vollständigkeit im Final Cut 20 Minuten kürzer ist.

Wie Hitchcock später in seiner Karriere betonte, konnte er der Handlung seines Filmes selbst nicht viel abgewinnen, sie eignete sich jedoch hervorragend für sein technisches Experiment. Auch James Stewart erklärte, dass "Rope" die einzige seiner Kollaborationen mit Hitchcock gewesen sei, die ihm nicht gefiel. Er selbst empfand sich in seiner Rolle als Cadell gar fehlbesetzt. Dass der Reiz des Films in erster Linie von technischer Natur ist, will ich nicht bestreiten, allerdings wäre es dem Drehbuch gegenüber unfair zu sagen, dass die Handlung nichts zu bieten hätte. Zwar wirkt die charakterliche Entwicklung im Falle von Phillip etwas überhastet und auch die emotionalen Eruptionen wirken zum Teil etwas zu akzentuiert, doch das ändert nichts am durchaus sehenswerten Psychoduell zwischen Brandon, Phillip und Cadell. Interessant wäre eventuell auch eine Umsetzung nach der ersten Drehbuchfassung Arthur Laurents gewesen, die den Mord zu Beginn des Films völlig weggelassen hätte, um dem Film dramaturgisch eine andere Farbe zu verleihen.

Imponierend ist bestimmt, wie es Hitchcock selbst mit einer kammerspielähnlichen Inszenierung gelingt, seinen typischen Spannungsbogen zu kreieren. Auch wenn "Rope" plottechnisch seine kleinen Makel haben mag, so ist der Film dennoch ein technisch hervorragender Film und ein wichtiger Vorreiter von Filmen wie "Timecode" (Mike Figgis, 2000) oder "Russian Ark" (Alexander Sokuro, 2002), die das Handwerk des schnittlosen Films weiter ausbauten und perfektionierten.

Montag, 21. März 2011

Bon appétit.

The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover -
Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber
(Peter Greenaway, 1989)

Indem der überhebliche Verbrecher Albert Spica (Michael Gambon) den Vorbesitzer zum Verspeisen von Hundekot nötigt, und ihn auf dem Parkplatz des "Le Hollandais" demütigt, zelebriert er seine Übernahme eben dieses erstklassigen Restaurants. Fortan besucht er jeden Abend sein Lokal, welches vom Küchenchef Richard Borst (Richard Bohringer) so exquisit bekocht und im Grunde auch geleitet wird, in Begleitung seiner zu ihm kontrastierend kultivierten Frau Georgina (Helen Mirren) und seiner treuen Gefolgschaft aus Kleinganoven. Gekennzeichnet durch sein impertinentes Auftreten definiert Spica das Restaurant als sein Revier, belästigt sowohl Gäste als auch Personal und erniedrigt seine Frau turnusmäßig. Georgina, vom Benehmen ihres Mannes sowohl angewidert als auch verängstigt, erwidert eines Abends den verstohlenen Blick des alleine speisenden, wortkargen Michaels (Michael Howard), der sich als selbstständiger Buchhändler Abend für Abend neben dem Genuss einer superben Mahlzeit auch ein literarisches Werk zu Gemüte führt. Georgina beginnt ihren unsittlichen Mann hinter dessen Rücken sexuell zu hintergehen, indem sie während ihrer Besuche im "Le Hollandais" vom Tisch ihres Mannes verschwindet und in versteckteren Teilen des Lokals mit ihrem Liebhaber intim wird.

Peter Greenaway zählt wohl unumstritten zu den Größen des surrealistischen, (oftmals) nicht linear erzählten Films. "The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover" sticht jedoch etwas heraus aus der Filmographie des walisischen Regisseurs, denn sein erfolgreichster und oft als "am leichtesten zugänglich" betitelter Film ist ungewohnt geradlinig, lässt sich mit seinen Vorgängern jedoch in puncto Thematik und Symbolik durchaus vergleichen. Wie so oft bei Greenaway handelt auch "The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover" vom Grotesken, Gewalt, Sexualität, dem Tod und der Tabuisierung der letzten beiden, wie er in einem Interview mit dem "Die Zeit"-Journalisten Andreas Kilb am 24. November 1989, veröffentlicht unter dem Titel "Der Koch bin ich" (in englischer Sprache, da entnommen aus: University Press of Mississippi (Hrsg.) (2000): "Peter Greenaway: Interviews", 60-65 pp), genauer erklärte:  
"Since the sixties, one can talk quite openly about sex and it can be widely discussed, but death is still the true challenge, the deepest tabu, the worst obscenity. And there is a great need to talk about this tabued theme."
In  "The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover" spricht er das laut ihm tabuisierte Thema Tod stellenweise sehr direkt an und verstärkt die Wirkung der intensivsten Szenen  zusätzlich durch ihren metaphorischen Nachgeschmack. Die am Film so heftig kritisierte Darstellung des Kannibalismus ließe sich wohl als offensichtlichstes Beispiel nennen, ein Tabubruch auf zahlreichen Ebenen, der - wie viele interpretieren - auch die Kritik an der Politik nicht scheut.

Dass sich "The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover" als späte Abrechnung mit dem Thatcherismus deuten lässt, steht außer Frage, denn Greenaway setzt den Kapitalismus und die Kriminalität unter Anwendung von Metaphern gleich. Er referenziert in seinem Werk häufig auf das Schaffen berühmter (in vielen Fällen holländischer) Maler, am deutlichsten wohl in "Nightwatching" (2007), einem Drama über Rembrandt und dessen Gemälde "Nachtwache" (1642). In seinem 1989 erschienen Film bezieht er sich unterschwellig auf Frans Hals' Banket van de officieren van de St. Jorisdoelen (1616), das im "Le Hollandais" eine Wand schmückt. Die Reinszenierung der auf dem Gemälde sichtbaren Szenerie mithilfe Spicas und seiner Gefolgschaft lässt darauf schließen, dass Verbrecher (im von Margaret Thatcher regierten Großbritannien) eine hierarchisch ähnlich wichtige Position einnehmen wie die in der Vorlage präsentierten Offiziere. Spica, das unanfechtbare Zentrum des Übels, spielt demnach die bedeutendste Rolle, er profitiert von der diebisch-kapitalistischen Regierung Thatchers, er unterdrückt  das intellektuelle Volk (Georgina, Michael) und verstümmelt den kreativen Freigeist der Kunst (repräsentiert durch Pup, den singenden Küchenjungen).

Besonders eindrucksvoll - in Greenaways Filmen beinahe gewohntermaßen - sind Sacha Viernys souveräne Kameraführung und das perfektionistische Szenenbild von Ben van Os und Jan Roelfs. Abgesehen von einer handvoll Szenen spielt sich der gesamte Film im und rund um das Restaurant ab, dass sich in vier abgegrenzte Welten aufspalten lässt, die sich am deutlichsten wohl in ihrer Farbe unterscheiden. Außerhalb des Lokals befindet sich ein Parkplatz, konsequent in blau gehalten, sich als chaotischsten, als ausladenden Ort präsentierend. Die Küche wirkt nicht weniger unordentlich, komplett in grün gehalten erscheint jener Teil jedoch als wesentlich lebendiger. Der rote Speisesaal evoziert leidenschaftliche, lustvolle Gefühle, während sich die steril in weiß gehaltene Toilette als befremdlich und gefühlskalt präsentiert. Eben dieses unheimlich detailreiche Szenenbild und die Beleuchtung tragen zur atmosphärischen Diversität der Films zusätzlich bei, kreieren eine markante Optik, die sich wohl am ehesten mit den frühen Werken des Duos Jeunet-Caro vergleichen lässt. Trotz einer Großzahl von Sprechrollen ließe sich Greenaways "The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover" als Kammerspiel bezeichnen. Besonders Viernys perspektivensparsame Kameraführung, die auf Dollyzooms beinahe vollständig verzichtet und sich auf seitliche Bewegungen beschränkt, und das  präzise Szenen-(Bühnen-)bild kennzeichnen den theatherähnlichen Stil des Films. 

Greenaway antwortete im obengenannten Interview auf Kilbs Bemerkung, dass der Koch der einzige sei, der seine Farbe nie verändern würde, stets weiß bliebe, nichts essen und niemanden ermorden würde, also generell außerhalb der Handlung aufhalten würde, folgendermaßen:
"Obviously, I am the cook. The cook is the director."
Greenaway ist der Koch.  Und das Menü, dass er einem mit "The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover" auftischt, ist ein Exquisites. Facettenreich, interessant, äquivok und intensiv. Da bleibt nur eines zu sagen: Bon appétit.

Montag, 14. März 2011

Controlled by passion.

The Red Shoes - Die roten Schuhe
(Michael Powell und Emeric Pressburger, 1948)

Victoria "Vicky" Page (Moira Shearer) ist eine junge, passionierte Balletttänzerin aus reichem Hause, eine bahnbrechende Performance fehlt ihr jedoch noch in ihrer Karriere, weswegen sie den meisten Größen des Balletts kein Begriff ist. Nach einem Auftritt des legendären Ballet Lermontov unter der Führung des charismatischen, wenn auch sehr rabiaten Ballettimpresario Boris Lermontov (Anton Walbrook) veranstaltet Vickys wohlhabende Tante eine Feier zu Ehren des Ensembles. Sie erhofft sich dadurch, ein Vortanzen für ihre Nichte erschleichen zu können, wendet sich auch an Lermontov, der ihre Motivation jedoch früh erkennt, und ihr zu verstehen gibt, dass er solche Entscheidungen nicht auf einer derartigen Veranstaltung treffen könne. Durch einen Zufall läuft er der Tänzerin im Verlauf des Abends jedoch persönlich über den Weg,  sie wechseln kurz Worte, wodurch Lermentov erkennt, dass die Leidenschaft der jungen Frau durchaus vorhanden ist. Deshalb nimmt er sie trotz anfänglicher Zweifel als Schülerin bei sich im Ensemble auf. Am selben Tag wie Vicky wird auch der aufstrebende Komponist Julian Craster (Marius Goring) als Leiter des Orchesters eingestellt. Um sich vom Talent seiner neuen Ballerina zu überzeugen, besucht Lermontov eine Vorstellung einer simpleren "Schwanensee"-Inszenierung, in der Vicky Page die Hauptrolle tanzt. Beeindruckt von ihrer frappierend exakten Performance entscheidet sich der Impresario, ein neues Ballett zu kreieren, in dem Vicky den Leading Part tanzen  und dessen Score von Julian verfasst werden soll. Der Name das Balletts soll "The Red Shoes" lauten.

Basierend auf dem gleichnamigen Märchen des Dänen Hans Christian Andersen - veröffentlicht 1845 in "New Fairy Tales. Volume One" - inszenierten Powell und Pressburger, oder The Archers wie sie zusammen gerne bezeichnet wurden, mit "The Red Shoes" nach "The Black Narcissus" (1947) ihre zweite  Nachkriegs-Kollektivarbeit, die ebenso wie jener zweifach oscarprämiert wurde. Filmhistorisch bedeutend ist "The Red Shoes" unter anderem auch deshalb, da er zu den wichtigsten Vertretern der Technicolor-Ära zählt, und gleichzeitig eines der imposantesten Werke jener Epoche ist, die das vierte, patentierte Technicolor-Verfahren - und erste subtraktive Farbmischungsverfahren, das sich 3 Komponenten bediente -  anwendeten. Diese Methode ermöglichte es in den 1930ern im Film erstmals mit dem gesamten Farbspektrum zu arbeiten.

Andersens Märchen handelt von einem verarmten Mädchen, das durch das unaufhörliche Tanzen ihrer roten Schuhe beinahe ums Leben kommt. Von einem Henker lässt sie sich ihre beiden Beine amputieren und läuft fortan auf zwei Holzbeinen. Ihre beiden amputierten Beine tanzen hemmungslos weiter, während das Mädchen in der Religion zu sich selbst findet. Sowohl das Ballett im Film, als auch der Film selbst spielt wiederholt auf die Handlung des Märchens an. Das Mädchen in der Fabel beginnt auf einer Party erstmals zu tanzen, ähnlich wie Vicky, der durch ihr Treffen auf der Feier der Sprung vors große Publikum gelingt. In beiden Werken dienen die roten Tanzschuhe als Auslöser einer Tragödie, eingeleitet durch das Eigenleben der Schuhe. Interessant ist eventuell auch Slavoj Žižeks Betrachtungsweise  der roten Schuhe, die in seinem Film "The Pervert's Guide to Cinema" (2006) als Musterbeispiel für das "partial object", das "eingenommene Objekt" dienen. Der slowenische Philosoph und Filmtheoretiker erklärt:  
"The fascinating thing about partial objects – in the sense of organs without bodies – is that they embody what Freud called 'Death Drive'. ['Death Drive'] is the dimension, which in the Steven King-like horror-fiction is called the 'Dimension of the Undead', '... of the Living Dead', of something that remains alive even after it's dead, it's, in a way, immortal in its deadness itself. […] The dimension of diabolical undeadness is what partial objects are about."
"The shoes are literally the undead object."
- Slavoj Žižek ("The Pervert's Guide to Cinema", 2006)
Nach Freud steht dem Todestrieb, oder Thanatos, ("Death Drive") der Eros gegenüber, der Lebenstrieb. Während der Todestrieb die Rückkehr des Lebens zum anorganischen Zustand des Toten anstrebt, orientiert sich der Eros nach dem Überleben. Im "partial object" - den roten Schuhen in diesem Beispiel - steht dem Thanatos nichts gegenüber, wodurch sich Žižeks "dimension of diabolical undeadness" ergibt und sich begründet, wie es den Objekten gelingt, ein Eigenleben zu führen. Gleichzeitig dienen im Film die Schuhe als Manifestation der Leidenschaft Vickys, die ihr Handeln bestimmt und für sie selbst stärker ist, als das Gefühl der Liebe.

Was "The Red Shoes" allerdings fehlt, ist die brutale Konsequenz des Märchens. Der Film schlittert in seiner phasenweise banalen Handlung ab, verkommt zur billigen Romanze, deren Ende von vornherein prädestiniert ist. Zweifelsfrei ist es Powell und Pressburger durch ihre Inszenierung gelungen, dem Tanz im Film eine neue Farbe zu verleihen, doch erzähltechnisch scheitert ihr Film über weiter Strecken dennoch. Unterschätzen darf man den Einfluss des Werks dennoch nicht, denn zahlreiche Regisseure wie Scorsese oder de Palma zählen "The Red Shoes" zu ihren Favoriten und sprechen ihm einen Einfluss auf ihr Schaffen zu, und besonders Aronofskys "Black Swan" (2010) ließ die Erinnerungen an den Film der Archers wieder hochleben.

Montag, 7. März 2011

After the eclipse...

Werckmeister harmóniák 
Werckmeister Harmonies
Die werckmeisterschen Harmonien
(Béla Tarr, 2000)

In einem kleinen Dorf inmitten der ungarischen Einöde fordert ein bitterkalter Winter seine Opfer. Die ansässigen Leute sind arm, die Stromversorgung droht wie auch die medizinischen Mittel zusammenzubrechen, der Kohlenvorrat geht zur Neige, der Frust sitzt tief. Als  eines Nachts ein slowakischer Wanderzirkus den Dorfplatz besetzt, um seinen gigantischen ausgestopften Wal und einen obskuren Prinzen zur Schau zu stellen, macht sich unter den Dorfbewohnern Unmut breit, scheinbar resultierend aus der Anwesenheit der ungebetenen Gäste. Nur einer reagiert mit Neugier auf die Fremden, János (Lars Rudolph), so sein Name, ist ein verträumter junger Mann, befreit von jeder Sorge und jeglicher Befangenheit. Er ist der einzige, der keinen Hass gegen den eigenartigen Wanderzirkus in sich spürt, zu immens ist seine Faszination für das ausgestellte Geschöpf. Er versteht die gewaltbereite Aversion seiner Mitmenschen gegenüber den Fremden nicht, besonders die Antipathie dem Meeressäuger gegenüber leuchtet ihm nicht ein, denn er selbst sieht in ihm eine eindrucksvolle Laune der Natur, eine faszinierende Schöpfung Gottes. Doch der Unmut der anderen Dorfbewohner verstärkt sich weiter, bis er in einer Eruption der Gewalt zu gipfeln droht.

Béla Tarrs "Werckmeister Harmonies" basiert auf dem 1989 erschienen Roman "Melancholie des Widerstandes" des ungarischen Autors László Krasznahorkai, der sich für Tarrs Adaption bereit erklärte, das Drehbuch zu verfassen. "Werckmeister Harmonies" bildet den siebten Film der bis heute neun Spielfilme umfassenden Filmographie Tarrs. Zuvor machte er sich besonders durch sein 7½-stündiges Epos "Sátántangó" ("Satan's Tango", 1994), ein Portrait einer zusammenbrechenden ungarischen Kolchose kurz vor dem Kollaps des Kommunismus, einen Namen als wagemutiger Regisseur, der weder Mühen scheut noch erschwerenden Umständen bei den Dreharbeiten aus dem Wege geht. Ein Ruf, dem der Ungar auch in "Werckmeister Harmonies" gerecht wurde, auch wenn dieser nur etwa eine Länge von 2½ Stunden aufweist, doch sein in 39 eindrucksvoll lang gezogenen Einstellungen aufgeteilter Film besticht besonders durch seine feinfühlig präzise Kameraführung und die - für Tarr typische - konsequente Verwendung von Schwarz-Weiß-Film.

"Werckmeister Harmonies" ist ein Film gespickt mit Metaphern und Allegorien, in seinen Bildern und seinem Ausdruck expirimiert. Bereits im Prolog verwendet János taumelige Trunkenbolde, um eine Sonnenfinsternis nach dem kopernikanischen Modell darzustellen, erläuternd, dass im Moment der totalen Finsternis ein kurzer Zeitpunkt der Ungewissheit herrscht, ein flüchtiger Moment der Unordnung, der Entropie, der allerdings mit der Wiederauferstehung der Sonne ein jähes Ende findet. Das Motiv der Sonnenfinsternis findet sich während des gesamten Films wieder, besonders wenn man "Werckmeister Harmonies" als Metapher für die Geschichte Ungarns der letzten 60 Jahre interpretiert, das sich während dieser Periode zwischen den Fronten der stalinistischen Sowjetunion und des faschistischen Deutschen Reichs befand und von beiderlei bleibend geprägt wurde. Als Sinnbilder für Hitler und Stalin kommen einige Figuren in Frage, wie zahlreiche Reviews beweisen, doch die eigentlich tragische Figur des Films - neben dem Träumer János - ist eine tote: Der Wal. Er dient als Metapher für das Übernatürliche, für Gott, für einen toten Gott um genau zu sein, wodurch sich ein Bezug zu Nietzsche herstellen lässt, der im 125. Aphorismus seines Werks "Die fröhliche Wissenschaft" schrieb: 
"Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet."
Und obwohl die göttliche Figur in "Werckmeister Harmonies" tot ist, strahlt sie eine gewisse Faszination aus, vielleicht auch deshalb, weil sie sich im Inneren eines  Traktor-Anhängers befindet, im Grunde nie zu sehen ist, sprich, nur hinter einer Fassade existiert. Diese Fassade trägt zum Mysterium des Wals bei. Ein Umstand der mit fortwährender Dauer des Films an Bedeutung gewinnt und in der Schlussszene in einem wundervoll emotional inszenierten Moment gipfelt. Die Referenz an Nietzsche ist auch gar nicht so weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass Béla Tarrs aktuellster Film "A torinói ló" ("The Turin Horse", 2011) auf einer Episode aus Nietzsches Leben in Turin aufbaut.

Eine weitere bedeutende Rolle spielt die titelgebende Werckmeister-Stimmung, die im späten 17. Jahrhundert eingeführt wurde und das Spiel zahlreicher Instrumente revolutionierte. Im Film wird die Wohltemperierte Stimmung, wie sie häufig genannt wird, vor allem kritisiert, da ihre Einführung eine Störung der natürlichen Tonreihe zur Erweiterung der musikalischen Ausdehnung bedeutet hätte. Und auch die Zerstörung des Natürlichen, um daraus einen Nutzen zu ziehen, findet sich im Film wiederholte Male, am deutlichsten wohl abermals im ausgestopften Wal.

Wundervoll untermalt vom Score Mihály Vígs erzählt Béla Tarr in seinem Film eine allegorische Geschichte, die eine ganze Reihe an Deutungen ermöglicht und einen beim ersten Mal wohl weitgehend ratlos zurücklässt. Doch wie nach einer Sonnenfinsternis wird nach und nach alles erhellt, und man erkennt, wie phänomenal tiefgründig und wichtig Béla Tarrs "Werckmeister Harmonies" wirklich ist.