Montag, 23. Mai 2011

Carrying a big can of paint...


Exit Through the Gift Shop
(Banksy, 2010)

Thierry Guetta ist ein leidenschaftlicher Filmer, der sein Haus praktisch nie ohne seine Kamera verlässt und auch im Kreise seiner Familie alles auf Bändern festhält. Während eines kurzen Aufenthalts in seiner französischen Heimat erkennt Theirry, dass sein Cousin der ambitionierte Invader ist, ein Street Artist, welcher aus kleinen quadratischen Plättchen mosaikartige Abbilder der Figuren aus dem Spiel „Space Invaders“ bastelt und diese an Wänden anklebt. Thierry beginnt, unter dem Vorbehalt einen Dokumentarfilm zu drehen, seinen Cousin und dessen Bekanntschaften bei ihrer Arbeit zu filmen. Als Guetta im Gegenzug Monate später von seinem Cousin besucht wird, öffnet sich ihm Tür zu den Größen der Street Art-Szene, denn Invader hat ein Treffen mit Shepard Fairey organisiert, welcher dem scheinbaren Dokumentarfilmer noch tiefere Einblicke in die Welt der Straßenkunst gewährt. Nach einiger Zeit hat Guetta die herausragendsten Bekanntheiten bereits vor der Kamera gehabt, einzig der mysteriöse Banksy fehlt ihm noch.

Unter dem Pseudonym Banksy arbeitet seit den frühen 90ern ein Street Art-Künstler, welcher mittlerweile zu den berühmtesten Figuren der Szene zählt. Hinter dem Namen verbirgt sich wahrscheinlich der 1973 geborene Brite Robin Gunningham, welcher in seinen künstlerischen Anfangsjahren mit besonderer Vorliebe fremde Wände in Bristol und London schmückte, jedoch sein „Revier“ im Zuge gestiegener Popularität expandierte und heute in zahlreichen Städten rund um den Globus verewigt ist. Thierry Guetta lautet der tatsächliche Namen des französischen Filmemachers, aus dessen Sammlung die Aufnahmen der dokumentierten Street-Artists stammt, um die es sich zu Beginn von „Exit Through the Gift Shop“ dreht. Guetta verspürte jedoch ausgelöst durch seine Bekanntschaften und Beziehungen die Anziehungskraft der Straßenkunstszene und begann unter dem Decknamen Mr. Brainwash selbst als freischaffender Künstler Bekanntheit zu erlangen.

Die kontrastierenden Unterschiede zwischen Banksy und Mr. Brainwash sind einerseits ein Hauptaugenmerk des Films, welches massive Kritik sowohl an der massenkompatiblen Kunst als auch am durchschnittlichen Kunstkonsumenten ausübt und andererseits auch eine Welle an Spekulationen ausgelöst hat, welche Teile des Films denn wirklich authentisch sind beziehungsweise ob es sich bei „Exit Through the Gift Shop“ tatsächlich um eine Dokumentation handelt. Der Perspektivenwechsel zwischen Guetta und Banksy, bei dem die dokumentierten Aufnahmen Guettas verabschiedet werden und aus Banksys Sicht weitererzählt wird, verlieht dem Film eine vollkommen eigene Atmosphäre, er erschafft das Gefühl einer fiktiven Ebene, die Zweifel an den als Wahrheit präsentierten Fakten aufkommen lässt. Kritisiert wird vielerorts auch der unrealistisch rasante Aufstieg Guettas in der Kunstszene, den Banksy selbst mokant kommentiert:

„Most artists take years to develop their style, Thierry seemed to miss out on all those bits.“
Dass die schrullige Figur Guettas durch Bemerkungen wie „I don't know how to play chess, but to me, life is like a game of chess“ auch seinen Beitrag zum allgemeinen Zweifel an der Authentizität des Films leistet, ist selbstredend, selbiges gilt auch für (eventuell) widersprüchliche Aussagen im Bezug auf Thierry Guettas Video-Sammlung. Irgendwo in der Mitte des Films scheint die Grenze zwischen Realem und Schwindel zu versickern. Es geht aus „Exit Through the Gift Shop“ nicht eindeutig hervor, ob Guetta nicht vielleicht doch nur ein von Banksy erschaffenes Mysterium ist, ein ausgetüfteltes Experiment quasi, welches während seiner Entstehung und Entwicklung so eingefangen wurde, dass sich dieser dokumentarische Stil entwickelt hat. „Exit Through the Gift Shop“ könnte ein weiteres Kapitel in Banksys künsterlischem Schaffen darstellen, ein kritischer Scherz quasi, Satire in Dokumentarverkleidung.

Doch ob dies tatsächlich der Fall ist oder nicht, wird den Stoff für zahlreiche Diskussionen der nächsten Jahre liefern, auch wenn es vielleicht gar keine so große Rolle spielt. Vielmehr verpackt Banksy in seinem Film Kritik einerseits an den zu leicht manipulierbaren, selbsternannten Kunstkennern und andererseits auch an den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Thierry Guetta, dem gebürtigen Franzosen, der in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist und trotz erdrückender Talentlosigkeit praktisch über Nacht zu Star geworden ist, steht der verschwiegene, auf seine Anonymität bedachte Banksy gegenüber, welchem erst nach langen Jahren der Arbeit die Anerkennung zuteil wurde, die er verdient. Der Konsument sieht im letztendlichen Werk nie die Vorgeschichte des Künstlers, der Blick hinter die Fassade wird nicht gewagt. Oder vielleicht wird er nicht mehr gewagt, denn Banksy kritisiert die von etablierten Künstlern der Szene kopierten und minimal modifizierten Werke Mr. Bainwashs:

„Warhol repeated iconic images until they became meaningless, but there was still something iconic about them. Thierry really makes them meaningless.“
Vielleicht ist es erst unsere Generation, die mit einem Überfluss an Kunst umspült wird und nicht mehr den kritischen Blick wagt, sich nicht mehr traut, das zu hinterfragen was sie sieht, und stattdessen lieber auf Altbewährtes setzt, und die Konfrontation mit dem Neuen, dem eventuell Kontroversen scheut. Wer weiß schon genau, um wen bzw. worum es sich bei Banksy, „Exit Through the Gift Shop“ und Mr. Brainwash tatsächlich handelt, doch was spielt das schon für eine Rolle. Kritisch und ein ebenso couragiertes Projekt ist der Film alle mal, ganz unabhängig davon, ob es dabei nun um eine Documentary oder eine Mockumentary handelt.

Samstag, 14. Mai 2011

Past, Present, Future and Imagination.

La Jetée
Am Rande des Rollfelds
(Chris Marker, 1962)

Einen namenlosen Mann (Davos Hanich) lässt eine fragmentarische Erinnerung an eine Episode seiner Kindheit nicht mehr los. Er erinnert sich an den Flughafen Paris-Orly, auf dessen Anlegesteg er an jenem Tag unterwegs gewesen ist, und wo das reizende Antlitz einer Frau (Hélène Chatelain) des Buben Blick auf sich gezogen hat. Das Ereignis steht in fester Verbindung mit der Konfrontation des Mannes mit dem Ausbruch des dritten Weltkrieges, welcher den Moment zeichnet. Nicht wissend, ob er das Gesicht der fremden Frau je wirklich zu Gesicht bekommen hat oder ob es nur ein in des Mannes eigener Imagination verwurzeltes Bildnis darstellt, beschäftigt und fasziniert die unbekannte Frau am Flughafen den Mann während den Zeiten des Krieges. Erst Jahre später wird ihm bewusst, dass er damals als Kind noch etwas anderes beobachtet hat. Es war der Tod eines Mannes, welcher sich ebenfalls am Steg befunden hatte. Im Zuge des dritten Weltkriegs ist die Stadt Paris durch Angriffe dem Erdboden gleichgemacht worden, die hohe Radioaktivität an der verseuchten Oberfläche zwingt die letzten Überlebenden dazu im Pariser Untergrund, in den Katakomben zu leben. Die Deutschen, welche siegreich aus dem Krieg hervorgegangen sind, schicken Forscher in jene unterirdischen Gänge, um dort mit Gefangenen Zeitreise-Experimente zu unternehmen, bei denen die Versuchspersonen einen Abstecher in ihre Vergangenheit unternehmen und sich dort Informationen bezüglich der Aufbewahrung von Nahrungsmitteln und Medikamenten aneignen sollen, welche das Überleben der in den Katakomben lebenden Menschen sichern sollen. Die Versuche schlagen jedoch fehl, die Versuchskaninchen sind nicht fähig die nötigen Auskünfte zu liefern, sondern drehen im Zuge der Reisen durch oder versterben gar durch den Schock. Um den Schockfällen entgegenzuwirken suchen die Forscher von da an nach Gefangenen, welche mit intensiven Erinnerungen oder Träumen aus der Zeit vor dem Krieg konfrontiert sind, da sie der Meinung sind, dass dies eben jene Erschütterung  der Versuchspersonen verhindern könnte. Dabei stoßen sie auf den Mann mit den mysteriösen Erinnerung aus seinen Kindheitstagen.

In nur in etwa 28 Minuten erzählt Chris Marker mit "La Jetée" eine der eindrucksvollsten Science-Fiction-Geschichten der Filmgeschichte, ohne sich dabei überhaupt an die Regeln der Filmkunst zu halten. Chris Marker arbeitet in seinen Film mit Standbildaufnahmen, welche mittels eines auktorialen Erzählers miteinander verbunden und werden, und so eine Geschichte erzählen (deshalb wurde der Film vielerorts als "Photoroman" bezeichnet). Nur für einen kurzen Moment, nicht länger als fünf Sekunden, bricht Marker aus den selbst statuierten Normen aus und präsentiert uns eine einzige bewegte Einstellung. Phänomenal platziert, in ihrer Wirkung eine Wucht, so eindrucksvoll, dass der Zuseher selbst für einen Moment an seiner Wahrnehmung zweifelt, denn hat sich das Bild nun bewegt oder nicht?

Chris Marker wurde 1921 in Neuilly-sur-Seine bei Paris geboren und studierte während der 30er unter Sartre Philosophie. Bevor er Anfang der 1950er seine ersten Dokumentarfilme produzierte, arbeitete er in erster Linie als Schriftsteller, Kritiker, Journalist und Fotograf. Seine bis heute über 40 Werke umfassende Filmografie besteht vollständig aus Dokumentationen; mit zwei Ausnahmen: "Sans soleil" (1983) und eben "La Jetée". Marker war zu Beginn der 60er mit den Dreharbeiten zu seiner Doku "Le joli mai" (1963 veröffentlicht) in Paris beschäftigt und sei damals, wie er später erklärte, so tief in die Wirklichkeit der Stadt im Jahre 1962 eingetaucht, dass er das "Cinéma vérité" entdeckt habe und an einem Tag, an dem die Filmcrew frei hatte, loszogen sei, um Bilder zu einer Geschichte aufzunehmen, die er, wie er zugab, damals  selbst nicht verstanden habe. Erst durch den Schnitt habe sich das Puzzle "La Jetée" später selbst zusammengesetzt. Heute wird Marker neben Agnes Varda und Alain Resnais zu den wichtigsten Vertretern der Rive Gauche gezählt, welche eine Gruppe von in Frankreich tätigen Regisseuren/innen beschreibt, welche sich parallel zur Nouvelle Vague entwickelt hat und deshalb von vielen als Untergruppe der französischen Neuen Welle betrachtet wird. Worin sich die beiden Bewegungen jedoch unterscheiden, ist die Tatsache, dass die Nouvelle Vague besonders in ihren Anfängen unpolitische Filme drehte, während die Rive Gauche mit Filmen wie "Hiroshima mon amour" (1959) oder eben "La Jetée" auf eben dieser Ebene deutlich Stellung bezogen. Dennoch werden die beiden Bewegungen oft als Einheit betrachtet, so wird  zum Beispiel Varda häufig als "Mutter der Nouvelle Vague" bezeichnet und Resnais als bedeutender Vertreter beider Bewegungen genannt.

Was an "La Jetée" besonders beeindruckt, ist ein gleichermaßen überraschendes Element. Obwohl der Film sowohl durch seine Beschränkung auf Standbilder  als auch durch seinen dokumentarischen Stil zwischen dem Zuseher und dem Geschehen auf der Leinwand eine enorme Distanz erschafft, gelingt es Marker eine interaktive Komponente in seinen Stoff miteinzuweben. Besonders deutlich wird dieser Aspekt des Films beim bereits oben erwähnten Stilbruch, der bewegten Einstellung. In einem Traum des Mannes erscheint die Frau, welche schlafend in ihrem Bett liegt. Durch extrem weiche Übergänge werden einzelne Stills ineinander übergehend verknüpft, wodurch bereits die Illusion einer Bewegung evoziert wird, sodass die Brücke zur tatsächlichen Einstellung kaum bemerkbar angehängt werden kann. In dieser Aufnahme erwacht die Frau aus ihrem Schlaf uns blickt uns frontal entgegen, bevor Marker durch einen (Quasi-) Matchcut zurück zum Photoroman wechselt, das Aufwachen des Mannes andeutend. Das Aufwachen der Frau ist der transzendente Höhepunkt des Films, wohl beabsichtigt nicht ans Ende platziert sondern mehr oder minder die Mitte schmückend. Vielleicht appelliert Marker an den Zuseher; dieser solle selbst die Augen öffnen; vielleicht aber auch drückt die Szene für die Hauptfigur eine Vorahnung bezüglich des Endes aus. Fest steht nur, dass es Marker gelingt, uns an unserer eigenen Wahrnehmung zweifeln zu lassen, was erst beweist, wie tief man trotz (oder vielleicht gerade aufgrund) der untypischen Verwendung der Standbildaufnahmen in der Geschichte des Films eintaucht, sodass die eigene Vorstellungskraft mithilfe des Voice-over-Kommentars als Lückenfüller zwischen den Bildern fungiert. "La Jetée" ist in dieser Form einzigartig, und wird es wohl ewig bleiben, da eine Rekonstruktion dessen, was Chris Marker hier als Verarbeitung eines Impulses geschaffen hat, sich unmöglich noch einmal nachfühlen lässt.