Samstag, 30. April 2011

Life and Suffering.

Ladri di biciclette
- Fahrraddiebe
(Vittorio De Sica, 1948)

Antonio Ricci (Lamberto Maggiorani) lebt zusammen mit seiner Frau Maria (Lianna Carell) und ihrem gemeinsamen Sohn Bruno (Enzo Staiola) im Arbeiterviertel der Stadt Rom, deren Wirtschaft - sowie die des gesamten krisengeschüttelten Italiens jener Zeit - von den Nachwirkungen des zweiten Weltkriegs schwer gezeichnet ist. Scharenweise betteln aufgebrachte Menschen um Geld, um Arbeit, die Lage ist hoffnungslos. Antonio wird jedoch wider Erwartens eine Stelle als Plakatankleber angeboten, welche er nur auszuüben in der Lage ist, sofern er im Besitz eines fahrtauglichen Fahrrades ist. Da Antonio, um seine Familie zu erhalten, sein Fahrrad erst kürzlich verpfändet hat, bittet er seine Frau, ihm bei der Wiederbeschaffung zu helfen. Zusammen mit Maria bringt er die gemeinsame Bettwäsche zum Pfandleiher, um das Fahrrad wieder auszulösen. Gemeinsam mit seinem Sohn, welcher als Schuhputzer ebenfalls das familiäre Einkommen aufbessert, startet er am nächsten Morgen seinen ersten Arbeitstag, wo er sich von seinem Vorgesetzten zeigen lässt, wie das Ankleben der Plakate funktioniert. Als sich Antonio anschließend erstmals selbstständig ans Plakatieren macht, wird ihm sein Fahrrad kurzerhand gestohlen. Aufgrund seiner Abhängigkeit vom entwendeten Objekt jagt Antonio dem Dieb nach, dieser kann jedoch aufgrund der Hilfe seiner Komplizen fliehen. Erschüttert vom Vorfall macht sich Antonio zusammen mit Bruno auf die Suche nach dem Rad, um seine Stelle nicht zu verlieren.

Der Begriff "neorealismo" wurde erstmals im Jahr 1942 verwendet und beschrieb damals den realitätsnahen, markant tristen Stil, welcher in Luchino Viscontis erstem Spielfilm "Besessenheit" (1942) erstmals zur Geltung kam. Inspiriert vom Poetischen Realismus Frankreichs, welcher im Zuge der wirtschaftlichen Krise Anfang der 1930er entstand, entwickelte sich der Italienische Neorealismus zu einer sowohl literarisch als auch filmisch bedeutenden Epoche, die eine künstlerische Antwort auf den Faschismus darstellte und auf die Missstände im Land Italien aufmerksam machte. Neben Visconti, der sechs Jahre nach seinem Erstlingswerk mit "Die Erde bebt" einen weiteren Meilenstein des Neorealismus auf die Leinwand zauberte, wirkten unter anderem auch Roberto Rossellini mit seiner Kriegstrilogie ("Rom, offene Stadt" (1945), "Paisà" (1946) und "Deutschland im Jahre Null" (1947)), Federico Fellini mit Werken wie "La Strada" (1954) und eben auch Vittorio De Sica mit, um nur eine handvoll zu nennen. Letzterer hatte sich besonders 1946 mit seinem Film "Schuhputzer" einen Namen gemacht. Der Film war beinahe ausschließlich mit Laiendarstellern und an Originalschauplätzen gedreht worden und wurde überraschenderweise ein internationaler Erfolg. "Schuhputzer" war so erfolgreich, dass David O. Selznick De Sica anbot, dessen nächsten Film zu produzieren und dafür Stars wie Cary Grant zu engagieren. De Sica lehnte ab, brachte das Geld selber auf und arbeitete abermals mit Laiendarstellern und an Originalschauplätzen um 1948 "Fahrraddiebe" zu inszenieren.

"Fahrraddiebe" ist ein düsteres Zeitzeugnis des Italiens der Nachkriegszeit. Das Arbeiterviertel, in dem die Geschichte spielt, ist eine triste Gegend, geprägt durch einfache Behausungen, brüchige Fußwege und Straßen und durch aufgebrachte, arbeitslose Männer, die um eine Anstellung regelrecht kämpfen müssen. Das familiäre Leben ist beinahe unmöglich, auch die Kinder müssen arbeiten, und selbst dann muss man sich noch mit allen Mitteln hinters Steuer klemmen, um die Familie versorgen zu können. Beim Pfandleiher herrscht reges Treiben, die Menschen verpfänden jedes entbehrliche Stück Hab und Gut, um Hoffnung schöpfen zu können. In Antonios Fall ist es das Opfer das Bettlaken; es ist das Aufgeben des Komforts, um sich in Form des Fahrrads eine neue Quelle der Hoffnung zu beschaffen. Doch das Opfer ist riskant, da diese Quelle am seidenen Faden hängt, wie sich später herausstellt. Selbst der kleine Bruno erkennt die Missstände im Land und beschwert sich darüber, im Wissen, dass andere Kinder ein weniger schweres Schicksal haben als er. Maria versucht ebenfalls Hoffnung zu schöpfen, besucht eine Wahrsagerin, die jedoch offensichtlich eine Hochstaplerin ist, die nur von der Naivität ihrer Kunden profitiert. Jeder Weg führt in einen Sog der Armut, Verzweiflung und Kriminalität.

Ein bedeutendes Motiv in De Sicas "Fahrraddiebe" ist die Einheit der Masse. Zu Beginn des Films wird eine Ansammlung klagender Männer gezeigt, die einen Arbeitsvermittler kritisieren, der nicht fähig ist, ihnen zu helfen. Nicht dabei in dieser Gruppe ist Antonio, er beklagt sich nicht, auch wenn es ihm keineswegs besser ergeht. Er sitzt abseits der Masse, und überhört sogar seinen Namen, als er vom Vermittler aufgerufen wird. Bereits in dieser Szene wird er als Optimist charakterisiert, eine Eigenschaft, die ihm beim Diebstahl eventuell zum Verhängnis wird. Er passt für einen Moment nicht auf sein Rad auf, welches sogleich entwendet wird. In der Szene des Diebstahls verliert Antonio erstmals seine Lockerheit, die Hektik wird ausgedrückt durch einen schnelleren Schnitt, und deutlich mehr Bewegung. Das Entkommen des Diebs wird durch sein Untertauchen in einer Menschenmenge in einem Tunnel ausgedrückt. Das Motiv der Masse findet sich auch in der Kirchenszene und am signifikantesten wohl in der Schlussszene wieder, welche ein vernichtendes Urteil über die italienische Gesellschaft der damaligen Zeit abgibt.

Vittorio De Sica lieferte mit "Fahrraddiebe" eines der eindrucksvollsten Werke der Filmgeschichte ab, ein zeitloses Werk, welches auch heute noch - oder vielleicht ganz besonders heute - einen unglaublichen Wert besitzt, denn auch im  21. Jahrhundert sind die Missstände in Italien spürbar, junge Menschen finden trotz ausgezeichneter Ausbildung keinen Job und das Nord-Süd-Gefälle des Wohlstands zieht auch heute noch Proteste und Demonstrationen nach sich. Was die Größe von De Sicas Film wohl zusätzlich verstärkt, ist ein Aspekt, welchen Rossellini  in seinen neorealistischen Werken stets fokussiert betrachtet hat: Die Last der problematischen Umstände auf die Kinder. Der Figur des Bruno dient in "Fahrraddiebe" auch als kindlicher Beobachter, durch den wir noch wesentlich mehr mitleiden als wir ohnehin schon täten. Und das wiederum verstärkt die Botschaft des Films erheblich, denn "Fahrraddiebe" vermittelt uns, dass es Umstände im Leben geben kann, aufgrund derer das Leid so groß wird, dass es uns Unsagbares tun lässt.

Hier möchte ich auch dankbar auf die beiden Besprechungen verweisen, die meine längst überfällige Sichtungen angekurbelt haben: 

3 Kommentare:

  1. Schöne und ausführliche Besprechung. Im Gegensatz zu Resnais befindet man sich hier ja auf ziemlich sicherem Grund, aber Arbeit macht's natürlich trotzdem.

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  2. Vor allem ein Text mit hoher Informationsdichte, was mir mangels großer Erfahrung in dieser Sparte etwas weiterhilft. Übrigens finde ich den Film gar nicht mal auf Italien beschränkt heute noch funktionell. Diese existenziellen Nöte gibt es in Deutschland auch zur Genüge, wenngleich bei uns das Fahrrad vielleicht durch das Auto ausgetauscht wurde, aber das wird im heutigen Italien kaum anders sein. Vermutlich ist Fahrraddiebe deshalb auch so zugänglich.

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  3. @ Manfred Polak: Vielen Dank.

    @ Intergalactic Ape-Man:
    Du hast natürlich vollkommen recht. Die Aussage des Films beschränkt sich keineswegs nur auf Italien, mir ging es in diesem Fall nur darum, die damaligen Umstände der Produktion mit dem heutigen Italien zu verbinden.

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