Samstag, 14. Mai 2011

Past, Present, Future and Imagination.

La Jetée
Am Rande des Rollfelds
(Chris Marker, 1962)

Einen namenlosen Mann (Davos Hanich) lässt eine fragmentarische Erinnerung an eine Episode seiner Kindheit nicht mehr los. Er erinnert sich an den Flughafen Paris-Orly, auf dessen Anlegesteg er an jenem Tag unterwegs gewesen ist, und wo das reizende Antlitz einer Frau (Hélène Chatelain) des Buben Blick auf sich gezogen hat. Das Ereignis steht in fester Verbindung mit der Konfrontation des Mannes mit dem Ausbruch des dritten Weltkrieges, welcher den Moment zeichnet. Nicht wissend, ob er das Gesicht der fremden Frau je wirklich zu Gesicht bekommen hat oder ob es nur ein in des Mannes eigener Imagination verwurzeltes Bildnis darstellt, beschäftigt und fasziniert die unbekannte Frau am Flughafen den Mann während den Zeiten des Krieges. Erst Jahre später wird ihm bewusst, dass er damals als Kind noch etwas anderes beobachtet hat. Es war der Tod eines Mannes, welcher sich ebenfalls am Steg befunden hatte. Im Zuge des dritten Weltkriegs ist die Stadt Paris durch Angriffe dem Erdboden gleichgemacht worden, die hohe Radioaktivität an der verseuchten Oberfläche zwingt die letzten Überlebenden dazu im Pariser Untergrund, in den Katakomben zu leben. Die Deutschen, welche siegreich aus dem Krieg hervorgegangen sind, schicken Forscher in jene unterirdischen Gänge, um dort mit Gefangenen Zeitreise-Experimente zu unternehmen, bei denen die Versuchspersonen einen Abstecher in ihre Vergangenheit unternehmen und sich dort Informationen bezüglich der Aufbewahrung von Nahrungsmitteln und Medikamenten aneignen sollen, welche das Überleben der in den Katakomben lebenden Menschen sichern sollen. Die Versuche schlagen jedoch fehl, die Versuchskaninchen sind nicht fähig die nötigen Auskünfte zu liefern, sondern drehen im Zuge der Reisen durch oder versterben gar durch den Schock. Um den Schockfällen entgegenzuwirken suchen die Forscher von da an nach Gefangenen, welche mit intensiven Erinnerungen oder Träumen aus der Zeit vor dem Krieg konfrontiert sind, da sie der Meinung sind, dass dies eben jene Erschütterung  der Versuchspersonen verhindern könnte. Dabei stoßen sie auf den Mann mit den mysteriösen Erinnerung aus seinen Kindheitstagen.

In nur in etwa 28 Minuten erzählt Chris Marker mit "La Jetée" eine der eindrucksvollsten Science-Fiction-Geschichten der Filmgeschichte, ohne sich dabei überhaupt an die Regeln der Filmkunst zu halten. Chris Marker arbeitet in seinen Film mit Standbildaufnahmen, welche mittels eines auktorialen Erzählers miteinander verbunden und werden, und so eine Geschichte erzählen (deshalb wurde der Film vielerorts als "Photoroman" bezeichnet). Nur für einen kurzen Moment, nicht länger als fünf Sekunden, bricht Marker aus den selbst statuierten Normen aus und präsentiert uns eine einzige bewegte Einstellung. Phänomenal platziert, in ihrer Wirkung eine Wucht, so eindrucksvoll, dass der Zuseher selbst für einen Moment an seiner Wahrnehmung zweifelt, denn hat sich das Bild nun bewegt oder nicht?

Chris Marker wurde 1921 in Neuilly-sur-Seine bei Paris geboren und studierte während der 30er unter Sartre Philosophie. Bevor er Anfang der 1950er seine ersten Dokumentarfilme produzierte, arbeitete er in erster Linie als Schriftsteller, Kritiker, Journalist und Fotograf. Seine bis heute über 40 Werke umfassende Filmografie besteht vollständig aus Dokumentationen; mit zwei Ausnahmen: "Sans soleil" (1983) und eben "La Jetée". Marker war zu Beginn der 60er mit den Dreharbeiten zu seiner Doku "Le joli mai" (1963 veröffentlicht) in Paris beschäftigt und sei damals, wie er später erklärte, so tief in die Wirklichkeit der Stadt im Jahre 1962 eingetaucht, dass er das "Cinéma vérité" entdeckt habe und an einem Tag, an dem die Filmcrew frei hatte, loszogen sei, um Bilder zu einer Geschichte aufzunehmen, die er, wie er zugab, damals  selbst nicht verstanden habe. Erst durch den Schnitt habe sich das Puzzle "La Jetée" später selbst zusammengesetzt. Heute wird Marker neben Agnes Varda und Alain Resnais zu den wichtigsten Vertretern der Rive Gauche gezählt, welche eine Gruppe von in Frankreich tätigen Regisseuren/innen beschreibt, welche sich parallel zur Nouvelle Vague entwickelt hat und deshalb von vielen als Untergruppe der französischen Neuen Welle betrachtet wird. Worin sich die beiden Bewegungen jedoch unterscheiden, ist die Tatsache, dass die Nouvelle Vague besonders in ihren Anfängen unpolitische Filme drehte, während die Rive Gauche mit Filmen wie "Hiroshima mon amour" (1959) oder eben "La Jetée" auf eben dieser Ebene deutlich Stellung bezogen. Dennoch werden die beiden Bewegungen oft als Einheit betrachtet, so wird  zum Beispiel Varda häufig als "Mutter der Nouvelle Vague" bezeichnet und Resnais als bedeutender Vertreter beider Bewegungen genannt.

Was an "La Jetée" besonders beeindruckt, ist ein gleichermaßen überraschendes Element. Obwohl der Film sowohl durch seine Beschränkung auf Standbilder  als auch durch seinen dokumentarischen Stil zwischen dem Zuseher und dem Geschehen auf der Leinwand eine enorme Distanz erschafft, gelingt es Marker eine interaktive Komponente in seinen Stoff miteinzuweben. Besonders deutlich wird dieser Aspekt des Films beim bereits oben erwähnten Stilbruch, der bewegten Einstellung. In einem Traum des Mannes erscheint die Frau, welche schlafend in ihrem Bett liegt. Durch extrem weiche Übergänge werden einzelne Stills ineinander übergehend verknüpft, wodurch bereits die Illusion einer Bewegung evoziert wird, sodass die Brücke zur tatsächlichen Einstellung kaum bemerkbar angehängt werden kann. In dieser Aufnahme erwacht die Frau aus ihrem Schlaf uns blickt uns frontal entgegen, bevor Marker durch einen (Quasi-) Matchcut zurück zum Photoroman wechselt, das Aufwachen des Mannes andeutend. Das Aufwachen der Frau ist der transzendente Höhepunkt des Films, wohl beabsichtigt nicht ans Ende platziert sondern mehr oder minder die Mitte schmückend. Vielleicht appelliert Marker an den Zuseher; dieser solle selbst die Augen öffnen; vielleicht aber auch drückt die Szene für die Hauptfigur eine Vorahnung bezüglich des Endes aus. Fest steht nur, dass es Marker gelingt, uns an unserer eigenen Wahrnehmung zweifeln zu lassen, was erst beweist, wie tief man trotz (oder vielleicht gerade aufgrund) der untypischen Verwendung der Standbildaufnahmen in der Geschichte des Films eintaucht, sodass die eigene Vorstellungskraft mithilfe des Voice-over-Kommentars als Lückenfüller zwischen den Bildern fungiert. "La Jetée" ist in dieser Form einzigartig, und wird es wohl ewig bleiben, da eine Rekonstruktion dessen, was Chris Marker hier als Verarbeitung eines Impulses geschaffen hat, sich unmöglich noch einmal nachfühlen lässt.

3 Kommentare:

  1. In der Tat ein faszinierender Film, oder Nicht-Film, ganz wie man will. Den sinistren Chefexperimentator spielt übrigens Jacques Ledoux, der langjährige Leiter der belgischen Cinémathèque (inzwischen zeitgeistig Cinematek) in Brüssel.

    Ich würde übrigens Markers SANS SOLEIL nicht als Dokumentation bezeichnen. Dafür enthält dieser Essayfilm zuviele fiktionale Elemente. Der Kameramann, der angeblich die Briefe schrieb, sein Bruder, der angebliche Komponist, und der japanische Videokünstler existieren alle nicht - das ist in Wirklichkeit alles Marker selbst.

    AntwortenLöschen
  2. Es ist mir mal wieder richtig peinlich, einen derart bedeutenden Film (er soll ja diverse spätere Werke beeinflusst haben) nicht zu kennen. An sich beschäftige ich mich durchaus mit dem französischen Kino, erkenne durch das Lesen deines Blogs aber ständig die riesigen Lücken, die noch zu schliessen sind. Was die Bewegungen um 1960 anbelangt: Ich verweigerte mich ihnen (Ausnahme: Truffaut) in der zweiten Hälfte der 70er bewusst, weil alle Welt über sie sprach - und ich natürlich mit meinem "eigenen" Repertoire glänzen musste - dumm wie ich war. Noch lässt sich dieses jugendliche Verhalten korrigieren - und deine Besprechungen fordern mich geradewegs dazu auf. :)

    AntwortenLöschen
  3. @ Manfred Polak: Interessant. Muss gestehen, dass ich bezüglich Marker auch noch meine Lücken habe und deshalb "Sans soleil" noch nicht gesehen habe. Seltsamerweise wird der Film scheinbar trotz seiner fiktiven Komponente vielerorts als Doku vermarktet. Danke jedenfalls für den Hinweis, hab's ausgebessert. ;)

    @ Whoknows: Freut mich, wenn ich mich hier quasi revanchieren kann. Ich erkenne beim lesen deines (und noch einiger weiterer) Blogs, wie groß meine eigenen Lücken noch sind, und finde gleichzeitig Startpunkte, um meine Unwissenheit auszumerzen. ;)

    AntwortenLöschen