Sonntag, 28. August 2011

The inconceivability of eruptive violence.

Elephant
(Gus Van Sant, 2003)

An einer High School in Portland deutet alles darauf hin, dass ein weitgehend gewöhnlicher Schultag bevorsteht. John (John Robinson) kommt zu spät zur Schule und muss zum Direktor, da sein Vater (Timothy Bottoms) ihn betrunken mit dem Auto dort abzuliefern versucht hat, am Hinweg jedoch den vorprogrammierten Unfall baute. Elias (Elias McConnell) arbeitet weiter an seinem Foto-Portfolio, nimmt dafür Portraitbilder beliebiger Personen auf und verarbeitet diese im schulischen Entwicklungsraum. Die Außenseiterin Michelle (Kristen Hicks) kämpft damit, selbst von ihren Lehrern mit abschätzigen Blicken bedacht zu werden und muss sich rechtfertigen, warum sie im Sportunterricht, anstatt Shorts zu tragen, eine lange Jogginghose anzieht. Nathan (Nathan Tyson) genießt seinen Status als sportliches Aushängeschild der Schule und die damit verbundene Sonderbehandlung, die ihm und seiner Freundin Carrie (Carrie Finklea) zuteil wird, während er den introvertierten Alex (Alex Frost) während der Stunde schikaniert. Nicole (Nicole George), Noelle (Chantelle Chriestenson) und Brittany (Brittany Mountain) himmeln Nathan an und halten lästernde Gespräche über Gott und die Welt, die nur während der Mittagspause pausiert werden, da sie dann gesammelt die Toilette aufsuchen, um kollektiv das soeben zugeführte Mahl oral zu entleeren. In der ganzen Dynamik des Schulalltags kann der Außenseiter Alex als ausgezeichneter Klavierspieler nur die Flucht in die Kunst suchen, auch wenn sein Freund Elias (Elias Deulen) ihm unterstützend beiseite steht und mit Alex kurzerhand einen Plan ausheckt.

In "Elephant" watet Van Sant auf für ihn altbekannten Pfaden, auf bereits vertrautem Terrain. Wie schon in einigen seiner Arbeiten zuvor (und im Grunde allen danach) widmet er sich wieder Charakteren, die damit kämpfen, als Außenseiter nicht in die Gesellschaft zu passen und versuchen aus ihren Rollen auszubrechen. Bereits ein Jahr zuvor hat Van Sant in "Gerry" - seinem vielleicht anspruchsvollsten Film - zwei schweigsame Männer (gespielt von Matt Damon und Casey Affleck) auf eine unfreiwillige Selbstfindungsodyssee durch die Wüste geschickt, ein Film der atmosphärisch - und durchaus auch thematisch - starke Bezüge zu Van Sants "My Own Private Idaho" aus dem Jahre 1993 herstellt. Auch in "Good Will Hunting" (1997), "Paranoid Park" (2007) und "Milk" (2008) stehen gesellschaftliche Außenseiter und deren soziales Umfeld im Fokus. Eine weitere Gemeinsamkeit von "Elephant" und "Gerry" (und natürlich "Milk", der hier allerdings außen Acht gelassen sei) findet sich im Bezug der Filme auf wahre Begebenheiten, wobei sich beide jedoch nur lose daran orientieren. Während "Gerry" in seiner Grundhandlung auf der Geschichte Raffi Kodikians und David Coughlins basiert, verarbeitet Van Sant in "Elephant" ein deutlich brisanteres Ereignis: Das Schulmassaker von Littleton, bei dem 1999 an der Columbine High School dreizehn Menschen von zwei jugendlichen Amokläufern getötet wurden. Doch während es Van Sant in "Gerry" noch gelungen ist der vorliegenden Geschichte eine bedeutungsschwere Komponente hinzuzufügen, verpasst er diese Chance in "Elephant".

Bereits die erste Einstellung des Films spricht unmissverständlich aus, in welche Richtung Van Sants Inszenierung geht. Einem Videospiel gleich verfolgen wir in gleichbleibenden Abstand aus der Vogelperspektive ein fahrendes Auto. So eindrucksvoll konsequent die Kameraarbeit Harris Savides' in "Elephant" auch sein mag, sie vermittelt etwas Deplatziertes und stellt den Bezug zum wohl beliebtesten Begründungsklischee der Amokläufe der letzten Jahrzehnte her: Ego-Shooter. Die Perspektive des Third-Person-Shooters findet sich während des gesamten Films bei allen Figuren wieder, vorzugsweise beim jeweils alleinigen Durchstreifen der Schulkorridore. Es lässt sich argumentieren, dass dieser Bezug gar nicht gewollt ist, und besagte Einstellungen - wie schon in "Gerry" - lediglich die Isolation der einzelnen Figuren betonen sollen (eine Aussage, die sich durch das Paar Nathan und Carrie untermauern ließe, da zwar die Third-Person-Shooter-Perspektive bei ihnen beibehalten wird, sie jedoch zu zweit durch die Gänge waten und somit als Gegenstück zu den restlichen, einsamen Charakteren agieren), allerdings wirkt diese Begründung spätestens in der Szene, in der Elias auf seinem Laptop einen Ego-Shooter spielt, scheinheilig. Die Bezüge auf Videospiele jenes Genres sind in "Elephant" schlicht und einfach zu omnipräsent und zu stereotyp, um effektiv zu funktionieren. Eindrucksvoll bleibt dennoch, wie wundervoll Van Sant und Savides mit langen Einstellungen, sehr konzisen, ruhigen Dialogen und Aufnahmen aufziehender Wolken das Gefühl der Ruhe vor dem Sturm (vor dem Amoklauf) zu vermitteln wissen. 

Man könnte argumentieren, dass die Inszenierung des Films als Videospiel die Psyche der Amokläufer veranschaulichen, und die Unerklärlichkeit und die Unberechenbarkeit einer Tat wie dieser betonen soll, doch Van Sant ist dabei zu inkonsequent, er ist zu mutlos und hindert so "Elephant" daran, einer der wichtigsten Filme des letzten Jahrzehnts zu werden. Zu krampfhaft versucht er gegen Ende doch noch Gründe für die Tat zu finden, zu verbissen etabliert er Alex als den massiv gemobbten, introvertierten Außenseiter. Die innige Beziehung mit Elias schottet Alex noch weiter ab, besonders im gemeinsamen Spielen der Ego-Shooter scheinen sie sich zwischen Realität und Fiktion zu verlieren, wie Alex' Kommentar - "Most importantly, have fun!" - kurz vor der Hinfahrt zur Schule zeigt. Die Absurdität erreicht Van Sant spätestens, als er die beiden angehenden Amokläufer beim Ansehen von Archivaufnahmen aus der NS-Zeit zeigt. Die Szene wird nicht weiter erläutert, Van Sant stellt sie schlicht und einfach in den Raum, und doch ist die Botschaft so deutlich und gleichzeitig so trivial, so geistlos. Die Ironie der gesamten Begründungsversuche findet sich bereits im Titel des Films, welcher sich - so Van Sant - auf eine Parabel des Buddhismus bezieht, in der fünf Blinde einen Elefanten untersuchen und dabei jeweils zu unterschiedlichen Resultaten kommen. Auf den Film angewandt, will Van Sant mit dieser Parabel sagen, dass man beim Suchen nach einer einzigen Begründung für Gewalt alle anderen Erklärungen negiere. Doch seltsamerweise begeht Van Sant genau diesen Fehler, auch wenn er - anstatt eine einzige anzuführen - mehrere Begründungen für die eruptive Gewalt zeigt und koppelt, doch den Mut die kaum vorhandene Begreiflichkeit einer derartigen Tat zu zeigen, bringt er nicht auf, wodurch "Elephant" in seiner Intention und Wirkung scheitert.

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