Dienstag, 8. Februar 2011

Seeing shadows only.

Il Conformista
Der große Irrtum
(Bernardo Bertolucci, 1970)

In den 40er Jahren, an einem zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Ort steigt Marcello Clerici (Jean-Louis Trintignant) in ein Auto, um sich von dessen Fahrer Manganiello (Gastone Moschin) zur Ausführung eines Auftrags chauffieren zu lassen. Angeregt durch den Dialog mit dem Lenker erfahren wir während dieser Autofahrt einen Einblick in eine anachronistische Aneinanderreihung von assoziierten Erlebnissen aus Marcellos Leben, eine Rekonstruktion der Geschehnisse bis zum aktuellen Zeitpunkt.
Im faschistischen Italien unter der Führung Mussolinis wird der junge Römer Marcello 1938 durch seine Beziehung zum überzeugt faschistischen Blinden Italo (José Quaglio) bei der Geheimpolizei eingestellt. Privat steht Marcello zu dieser Zeit kurz vor seiner Hochzeit mit einer naiven, einfachen Frau der Mittelschicht, Giulia (Stefania Sandrelli), die ihn inständig darum bittet, vor der Zeremonie bei einem Pfarrer noch einmal die Beichte abzulegen, da dieser die beiden sonst nicht trauen werde. Bei besagtem Schuldbekenntnis erzählt er von einer traumatischen Episode seiner Kindheit, die ihn noch bis ins Erwachsenenalter verfolgt. Dieses Trauma und seine brüchige Beziehung zu seiner morphiumsüchtigen Mutter und seinem ehemals faschistischen Vater, der in seinem Anteil an der Verfolgung und Folter nichtfaschistischer Bürger aus starken Schuldgefühlen in eine Irrenanstalt geflohen ist, bestärken Marcellos Streben nach einer gesellschaftlichen Normalität, die er zu erlangen sucht, indem er dem Konformismus verfällt, sich stets an die politischen und gesellschaftlichen Normen anpassend.

"Der große Irrtum" war der erste kommerziell erfolgreiche Film Bertoluccis, dem die Kritiker während seines frühen Werks nachsagten, zu sehr von seinem großen Vorbild Jean-Luc Godard abzukupfern. Tatsächlich verneinte Bertolucci seine Verehrung Godard gegenüber nie, bezeichnete ihn gar als cineastischen Revolutionär und als Lehrmeister seiner Wenigkeit. Es ging sogar so weit, dass der damals 28-jährige Italiener 1968 in seiner damals dritten Regiearbeit  "Partner" seinen persönlichen Stil vollständig aufgab, und offenkundig versuchte, sein Vorbild nachzuahmen. Neben den Kritikern nahm auch Godard selbst diese stilistische Hingabe eher negativ auf, wodurch sich Bertolucci dazu bewegt fühlte, "Der große Irrtum", ein Film basierend auf einem Roman, künstlich ausgeleuchtet, sprich befreit von den Normen der Nouvelle Vague, zu drehen. Zwar sind die Querverweise auf Godard hier nachwievor präsent, doch diese sind weitaus kritischer, deutlich negativ angehaucht, unterschwellig als diffiziler Racheakt oder subtile Abrechnung mit dem einstigen Vorbild  agierend. "Der große Irrtum" war das erste Ringen nach Unabhängigkeit Bertoluccis, eine eindrucksvolle Darlegung seines Könnens.

Bertoluccis "Der große Irrtum" arbeitet auf zahlreichen Ebenen, bietet eine ganze Reihe von interpretatorischen Ansätzen, in jedem Medium eine eigene Aussage versteckend. Zum einen stellt er eindeutig eine Abrechnung mit einer politischen Bewegung, dem Faschismus, dar. Bertolucci selbst war Kommunist, trat zwei Jahre vor den Arbeiten zu "Der große Irrtum" der kommunistischen Partei Italiens bei und ließ dies merklich in seinen 1970 erschienenen Film einfließen.  Schon während des Vorspannes präsentiert uns Bertolucci in Form einer Neonreklame für Jean Renoirs "Das Leben gehört uns" von 1936 seine Einstellung zum Faschismus in kräftiger Farbe, denn Renoirs Film diente damals als Unterstützung des Wahlkampfs der kommunistischen Partei Frankreichs. Außerdem kritisiert Bertoluccis Film den bürgerlichen Hang sich an die Masse anzupassen, die Neigung zur Konformität. Am Beispiel Marcellos wird diese Konformität zwar durch eine traumatische Kindheit verursacht, jedoch ist sie, die Konformität, es wiederum, die zum Faschismus führt. Der Faschismus als Konsequenz einer seelisch erschütterten Kindheit ist ein Thema das auch Michael Hanekes "Das weiße Band" von 2009 in etwas nuancierterer Form behandelt.


Pompöse Bilder dominieren Marcellos
Erinnerungen
Ein bedeutender Teil der Genialität des Films lässt sich auch auf Vittorio Storaros atemberaubend vielseitige Kameraführung zurückführen. Die Kamera dient in "Der große Irrtum" als subjektives Fenster, das das Geschehen und die Erinnerungen aus der Sicht des Protagonisten wiedergibt. Es lässt sich dadurch auch nicht ausschließen, dass Marcello im Schwelgen in der Vergangenheit  mehrere Erinnerungen vermischt oder einzelne verzerrt, denn besonders seine Rückblicke zum Hauptquartier der Geheimpolizei sind geprägt durch surreal illustre Aufnahmen von üppigen Sälen und breiten Gängen, die durch ihre gewollte Farblosigkeit und ihre gezielte Beleuchtung beinahe eintönig wirken. Ein gewollter Effekt, denn in den verblassten Erinnerungen Marcellos ist der Detailreichtum verloren gegangen. 
Die Mauer als Ausdruck der Isolation
Storaro lässt die Kamera auch für das Befinden des Charakters sprechen, indem er durch leicht schräge Bildachsen, variationsreiche Dolly-Zooms und perfekt eingesetzte Kamerafahrten Gemütszustände andeutet, eine Technik, die in jüngster Vergangenheit Benoît Debie perfektioniert hat. Bei Storaro liegt ein besonderer Fokus darauf, Marcellos Isolation ständig unterschwellig darzustellen, sei es durch die geometrischen, architektonischen Eigenschaften der Gebäude, in denen er sich aufhält, oder auch durch die Erschaffung imaginärer Barrieren, die ihn von seinen Mitmenschen abgrenzen. In einer Szene zum Beispiel unterhält sich Marcello mit seiner Ehefrau durch eine offene Tür, jedoch wählt Storaro die Position der Kamera so geschickt, dass wir die Tür nur erahnen können, während wir die Trennung der beiden Figuren durch eine Mauer wahrnehmen, die den oder die jeweilige(n) in seine Räumlichkeit sperrt, die Isolation dadurch ausdrückend.

Das Licht, gespalten durch die Jalousien,
als Käfig der Ehe

Platons Höhlengleichnis wird in Bertoluccis "Der große Irrtum" große Bedeutung eingeräumt. Das Gleichnis geht von Gefangenen aus, die seit ihrer Geburt mit den Rücken an eine Mauer gefesselt sind, deren Höhe sie nicht erreichen können, ihre Augen stets auf die gegenüberliegende Höhlenwand gerichtet. Hinter der Mauer brennt eine Kerze, während freie Männer Statuen zwischen der Kerze und der Mauer vorbeitragen, wodurch Schatten auf der, für die Gefangenen sichtbaren, Höhlenwand entstehen. Platon ging davon aus, dass sich die Gefangenen aus diesen Schatten ihre Realität bilden würden, und wenn man einen freiließe und ihn ans Sonnenlicht führe, um ihm die wahre Realität zu zeigen, so würde er zurück in der Höhle im Zuge seiner Berichte auf Ablehnung stoßen oder gar getötet werden. Mit bemerkenswertem Einsatz von Schatten und Licht präsentiert Bertolucci in einem Dialog den allegorischen Wert des Gleichnisses. Doch nicht nur in dieser Szene besticht der Film durch sein Spiel mit Licht und Schatten, nein, denn durchgehend wird die Beleuchtung und der Kontrast zwischen dunkel und hell als Stilmittel eingesetzt.

"Der große Irrtum" ist ein Prachtstück von einem Film, eine Perle der Filmgeschichte, ein Geniestreich in Narration, Bildsprache und Schauspiel abgerundet durch Bertoluccis fantastische Inszenierung. Matthew Libatique hat vor kurzem erklärt, dass es "Der große Irrtum" und vor allem Vittorio Storaros umwerfende Kameraarbeit gewesen seien, die ihn dazu bewegten haben, Kameramann zu werden.  Und wen wundert das bei einer derart phänomenalen Bildgewalt, wie sie "Der große Irrtum" vorzuweisen hat?

2 Kommentare:

  1. Ein ausgezeichneter Text über einen wunderbaren Film, der auch in meiner engeren Auswahl für demnächst zu besprechende Filme war. Dass Bertolucci die sozialen und ökonomischen Ursachen des Faschismus weitgehend ausblendet und alles auf die Psyche des Protagonisten fokussiert, darüber kann man natürlich streiten, aber wie er das macht, ist ziemlich faszinierend. Was mir an Storaros Arbeit neben den Punkten, die Du schon genannt hast, besonders gefällt, sind diese irgendwie ätherischen Farben, für die er mit irgendwelchen speziellen Emulsionen experimentiert hat, und die im ausladenden Epos NOVECENTO teilweise wieder auftauchen (ebenso wie Dominique Sanda und Stefania Sandrelli). Dieser Punkt hebt den Film auch nochmal besonders von Godard und Pasolini (Bertoluccis anderes Vorbild) ab.

    BTW, im Satz, der mit "Bertolucci selbst war Kommunist" beginnt, ist etwas durcheinander geraten, da fehlt mindestens eine Zeile.

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  2. Vielen Dank.
    Bei der Farbgebung kann ich dir nur zustimmen. Anscheinend soll Storaro besonders bei der Tanzszene der beiden Frauen mit genialsten Tricks gearbeitet haben. Zum Beispiel wollte er den Einfluss des Außenlichts minimieren und hat dazu Gelatine-Schichten an die Fenster gehängt, um den Innenraum trotz raumhoher Fenster zu isolieren. Eine weitere Einstellung, die ich ganz faszinierend fand, auch wenn sie nur wenige Sekunden andauert, ist die, in der Marcello in einer Erinnerung durch einen Flut schreitet, und sich sein Schatten dabei haargenau in das Gitter einordnet, das die Schatten der Fenster am Boden formen. Siehe hier: http://i.imgur.com/hNv2O.png
    Das Motiv des Gitters findet sich in zahlreichen Einstellungen wieder.

    Danke für den Hinweis, da bin ich beim Markieren des Fehlers wohl in der Zeile verrutscht. Ist behoben :)

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