Donnerstag, 26. Januar 2012

Between Love and Hate.

The Night of the Hunter
Die Nacht des Jägers
(Charles Laughton, 1955)


Bei einem Überfall der zwei Menschenleben fordert erbeutet Ben Harper (Peter Graves) 10.000 $, doch da ihm die Polizei bereits kurz nach seinem Delikt auf den Fersen ist, bleibt es ihm verwehrt, mit der Beute zu fliehen. Er schafft es gerade noch zu seinem Haus und Hof zu gelangen, wo er das Geld an seine kleinen Sprösslinge John (Billy Chapin) und Pearl (Sally Jane Bruce) übergibt und in der Puppe des Mädchens versteckt. Die beiden Kinder schwören niemandem vom Versteck des Geldes zu verraten. Am Ort der Geldübergabe angekommen, nehmen die Polizisten Ben fest, welcher im anschließenden Prozess zum Tode verurteilt wird. Seine Zelle im Gefängnis teilt er sich mit Harry Powell (Robert Mitchum), welcher kurz vor seiner Entlassung steht. Eines nachts beginnt Ben im Schlaf zu reden, und verrät an seinen Zellengenossen, dass er das Geld des Überfalls sicher untergebracht hat, das geheime Versteck behält er dennoch für sich. Als Bens Leben sein verfrühtes Ende erfährt, kommt Harry - mit nichts anderem im Kopf als der versteckten Beute - frei und versucht die Witwe (Shelley Winters) des Hingerichteten zu finden, um von ihr das Geheimnis zu erfahren. Als fanatischer Wanderprediger streift der skrupellose Verbrecher durchs Land auf der Suche nach den 10.000 $, wobei er vor nicht davor zurückschreckt, für sein Vorhaben zu morden.

"The Night of the Hunter" war - basierend auf dem gleichnamigen Roman von David Grubb - der erste und einzige Film unter der Regie des britischen Schauspielers Charles Laughton. Bei der Erstaufführung floppte der Film sowohl bei den Kritikern als auch bei dem Publikum. Erst im Laufe der Zeit erkannte man, dass Laughtons Film ein wesentlich größeres Werk ist, als anfangs gedacht, und dass sich der Einfluss von "The Night of the Hunter" in zahlreichen Film Noirs wiederfindet. Filme wie Orson Welles' "The Trial" oder auch David Lynchs "Blue Velvet" beinhalten klare Anleihen aus "The Night of the Hunter". In gewisser Weise wirkt Laughtons Film ambivalent, wenn man bedenkt, dass manche im Film gezeigten Szenarien sowohl schockierend auf die Zuschauerschaft der damaligen Zeit  wirkte, als auch - aufgrund der zeitweise euphemistischen, Slapstick-artigen Inszenierung - einen belustigenden Aspekt mit sich bringt. Aufgrund dessen mag "The Night of the Hunter" in seinen frühen Jahren wohl nicht den Eindruck hinterlassen haben, den er heutzutage zweifellos in den Herzen vieler Filmliebhaber hinterlässt. Die Zeit und viele Zuschauer waren damals noch nicht reif für einen Film wie diesen, was sich besonders häufig in der Fehlinterpretation der Mise-en-scène und des manchmal auffällig unnaturalistischen Szenenbilds als bizarr und schrullig widerspiegelt. Zieht man jedoch in Betracht, dass Laughton diese Aspekte gewollt in seinen Film hat einfließen lassen, funktioniert sein "The Night of the Hunter" auf einer vollkommen anderen Ebene.

Inspiriert sowohl vom Film noir der damaligen Zeit als auch vom Deutschen Expressionismus der Stummfilm-Ära arbeitet Laughton gezielt mit Licht und Schatten und teils sehr plastischen Szenenbildern und entwirft so eine beinahe mystische Welt im Film. Im Vordergrund steht hier die Unschuld, beziehungsweise die Repräsentation einer unschuldigen, kindlichen Welt. Der Film wird in großen Teilen aus der Sicht der beiden Kinder erzählt, wodurch die Welt und das Geschehen um sie vielfach aus ihrer Sicht gezeigt wird. Die Gewalt wird verharmlost, während die Gefahr spielerisch verarbeitet wird. Laughton hat seine filmischen Mittel keinesfalls stümperhaft eingesetzt, sondern durch gewollte Verfremdung eine magische kleine Welt im Film geschaffen.

"The Night of the Hunter" ist ein Film der Kontraste. Licht und Schatten, Weiß und Schwarz, Gut und Böse, sie alle stehen sich im Film direkt gegenüber. Es gibt keinen fluktuierenden Übergang zwischen ihnen, sie sind Gegenpole - und zwischen ihnen besteht ein Konflikt. Am deutlichsten wird dieses Motiv in den Tattoos Harry Powells verwendet, denn auf seinen Fäusten steht auf der einen Seite "LOVE" und auf der anderen Seite "HATE" geschrieben. Wie ebendiese kontrastierenden Gefühle, scheint auch Harry Powell selbst zwischen zwei Polen hin- und hergerissen zu sein. Besonders die Beleuchtung drückt seine Gefühlszustände aus, wie zum Beispiel die Mordszene beweist, in welcher er im ersten Moment noch abzuschweifen scheint, die Beleuchtung sich jedoch schlagartig ändert und die messerscharfen Schatten, die im Raum auf die Wände fallen als Prophezeiung dessen dienen, was passieren wird. Im Anschluss greift Harry zum Dolch und ersticht eine Dame. Auch in der Kleidung zeigt sich diese Ambivalenz in Harrys Charakter. In diesen Momenten der Unsicherheit trägt er meist sowohl weiße als auch schwarze Kleidung, während das Weiße an sich im Film das Unschuldige zu betonen und das Schwarze für das Böse zu stehen scheint. Doch auch besonders bei der Kleidung findet wiederum eine Interaktion mit Licht und Schatten. Und genau mit diesem Zusammenspiel von hell und dunkel gelingt es "The Night of the Hunter" die Ketten des Naturalistischen - ohne dabei kitschig zu sein - abzulegen und eine kindlich-naive Anschauung der Realität in eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Bildern wiederzugeben.

Sonntag, 22. Januar 2012

Es ist vollbracht.

Wie Der Nino aus Wien schon schrieb: Es geht immer ums vollenden.

Meine erste filmtheoretische Arbeit ist nun nach etwa sechs Monaten endlich vollendet. Es handelt sich um eine 40-seitige Analyse und Interpretation von David Lynchs "Eraserhead" in englischer Sprache, die ich als Teil meiner anstehenden Matura im Juni 2012 zu verfassen hatte. Da somit eine ungeheure Last von meinen Schultern gefallen ist, und ich einen unbeschreiblichen Berg an Stress hiermit abgearbeitet habe, bin ich fortan wieder fähig, mehr Beiträge hier zu verfassen und zu veröffentlichen.
Ich möchte allen danken, die mir treu geblieben sind, und noch heute gewillt sind die Beiträge hier zu lesen und ihre persönliche Meinung kund zu tun. Vielen Dank!

Ich werde mich hier die nächsten Tage mit meiner ersten kleinen Rezension zurückmelden.

Samstag, 5. November 2011

Inescapability.

Melancholia
(Lars von Trier, 2011)

Aufgrund einer nicht ganz unproblematischen Anreise erscheinen Justine (Kirsten Dunst) und Michael (Alexander Skarsgård) zu spät zu ihrer eigenen Hochzeit. Justines Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg), welche maßgeblich an der Planung der Heirat beteiligt ist und dafür gar das Schloss ihres Mannes John (Kiefer Sutherland) zur Verfügung gestellt bekommen hat, ist bei ihrer überfälligen Ankunft stark gereizt und versucht die Prozedur etwas zu beschleunigen. Obwohl Justine mit ihrem Verlobten glücklich wirkt, scheint etwas mit ihr nicht zu stimmen. Sie agiert abweisend, verschließt sich sowohl vor ihrer Verwandtschaft als auch vor ihrem Mann, wodurch der Abend zum Desaster wird. Sie beginnt einen Streit mit ihrem Arbeitgeber, welcher ebenfalls aus der Festlichkeit anwesend ist, und verliert letztlich gar ihren Job. Die geschiedenen Brauteltern tragen ihren Beitrag zur vermasselten Heirat bei, sie führen ihren Ehekrieg vor den Gästen weiter, während John mit Ärger auf die nach Außen unbegründet wirkende Unentschlossenheit seiner Schwägerin reagiert. Die Hochzeit wird zum Reinfall, die Vermählung findet letztlich nicht mehr statt, da sich Michael - wie er Justine erklärt - eine Ehe nicht mehr vorstellen könne. Niemand kann sich anfangs Justines emotionalen Umschwung erklären, einzig der ungewöhnlich hell strahlende Antares im Sternbild des Skorpion fällt als Anomalie auf, die Justines Aufmerksamkeit während des gesamten Abends auf sich zieht und sie scheinbar in ihrem Handeln beeinflusst.

Lars von Trier gelingt es stets eindrucksvoll für Furore zu sorgen, jedoch nicht immer nur cineastisch, wie man spätestens seit seinen Aussagen während der Filmfestspiele von Cannes weiß. Doch abseits seiner umstrittenen Persönlichkeit steht außer Frage, dass sein Werk und dessen Einfluss auf den Film der letzten Jahrzehnte bedeutend ist. Spätestens durch die Mitbegründung des Dogma 95-Manifests, welches bestrebt ist den Realismus im Film stärker zu betonen, zeigte sich sein Einfluss, obgleich er bereits zuvor mit Filmen wie "Element of Crime" (1984) und "Europa" (1991) die Aufmerksamkeit der Kritiker gewonnen hatte. Zum "Enfant terrible" des Kinos wurde Lars von Trier Ende der 90er, als er mit dem graphisch äußerst expliziten "Idioten" (1998) erstmals für einen Skandal sorgte. Fortan sorgte von Trier stets für aufsehenerregende Filme, zuletzt 2009 mit "Antichrist".

"Melancholia" lässt sich innerhalb der von Trier'schen Filmographie fraglos am besten mit "Antichrist" vergleichen, da sich die beiden Filme besonders in puncto Gliederung, Struktur, aber auch bezüglich der Bildsprache sehr ähnlich sind. Auch die Tatsache, dass sich die Handlung in "Melancholia" trotz des opulenten Szenarios auf das Schicksal weniger Menschen begrenzt, trägt Parallelen mit sich, deren Ursprung wohl in von Triers Depressionen wurzeln. Bereits vor der Veröffentlichung der beiden Filme habe der Regisseur unter der Krankheit gelitten, welche er nun in Form seiner Werke zu verarbeiten versuche, so von Trier. Die Depression und Melancholie war schon in "Antichrist" in der Rolle von Charlotte Gainsbourg ein fokaler Punkt, in "Melancholia" findet sich das Motiv nun wesentlich offensichtlicher und in mehrfacher Ausführung wieder.

Wie schon in seinem vorherigen Film verabschiedet von Trier auch bei "Melancholia" im Prolog die Grundsätze der Dogma-Bewegung und inszeniert eine ambige, traumähnliche, ja gar surreale Einleitung zu den wesentlich konventionelleren, anschließenden Teilen, in denen die beiden Hauptdarstellerinnen, Kirsten Dunst und Charlotte Gainsbourg, groß aufspielen dürfen. Doch auch in diesen Teilen spart von Trier nicht mit Metaphern. Besonders die Bezüge zur Malerei lassen großen Raum für Interpretation, so finden sich neben Bezügen zu Albert Dürers "Melencolia I" auch John Everett Millais' "Ophelia" und "Die Jäger im Schnee" von Pieter Bruegel dem Älteren im Film wieder. Um eine Bedeutungsebene wird "Melancholia" auch durch Richard Wagners "Tristan und Isolde" im Soundtrack erweitert, doch alles in allem wirkt der Film dadurch zu überladen. "Melancholia" versucht versteift opulent, üppig zu sein, schießt jedoch stellenweise am Ziel vorbei und wirkt viel eher prätentiös. Auch wenn von Trier es abermals gelingt über einige Passagen eine gewaltige Spannung mit unkonventionellen Mitteln aufzubauen und optisch Eindrucksvolles auf die Leinwand zu bannen, so trivial wirkt gleichzeitig das - im Kino zugegebenermaßen visuell umwerfende - Ende, wenn man es nicht wörtlich nimmt - und darum geht es doch schließlich bei Lars von Trier.

Sonntag, 28. August 2011

The inconceivability of eruptive violence.

Elephant
(Gus Van Sant, 2003)

An einer High School in Portland deutet alles darauf hin, dass ein weitgehend gewöhnlicher Schultag bevorsteht. John (John Robinson) kommt zu spät zur Schule und muss zum Direktor, da sein Vater (Timothy Bottoms) ihn betrunken mit dem Auto dort abzuliefern versucht hat, am Hinweg jedoch den vorprogrammierten Unfall baute. Elias (Elias McConnell) arbeitet weiter an seinem Foto-Portfolio, nimmt dafür Portraitbilder beliebiger Personen auf und verarbeitet diese im schulischen Entwicklungsraum. Die Außenseiterin Michelle (Kristen Hicks) kämpft damit, selbst von ihren Lehrern mit abschätzigen Blicken bedacht zu werden und muss sich rechtfertigen, warum sie im Sportunterricht, anstatt Shorts zu tragen, eine lange Jogginghose anzieht. Nathan (Nathan Tyson) genießt seinen Status als sportliches Aushängeschild der Schule und die damit verbundene Sonderbehandlung, die ihm und seiner Freundin Carrie (Carrie Finklea) zuteil wird, während er den introvertierten Alex (Alex Frost) während der Stunde schikaniert. Nicole (Nicole George), Noelle (Chantelle Chriestenson) und Brittany (Brittany Mountain) himmeln Nathan an und halten lästernde Gespräche über Gott und die Welt, die nur während der Mittagspause pausiert werden, da sie dann gesammelt die Toilette aufsuchen, um kollektiv das soeben zugeführte Mahl oral zu entleeren. In der ganzen Dynamik des Schulalltags kann der Außenseiter Alex als ausgezeichneter Klavierspieler nur die Flucht in die Kunst suchen, auch wenn sein Freund Elias (Elias Deulen) ihm unterstützend beiseite steht und mit Alex kurzerhand einen Plan ausheckt.

In "Elephant" watet Van Sant auf für ihn altbekannten Pfaden, auf bereits vertrautem Terrain. Wie schon in einigen seiner Arbeiten zuvor (und im Grunde allen danach) widmet er sich wieder Charakteren, die damit kämpfen, als Außenseiter nicht in die Gesellschaft zu passen und versuchen aus ihren Rollen auszubrechen. Bereits ein Jahr zuvor hat Van Sant in "Gerry" - seinem vielleicht anspruchsvollsten Film - zwei schweigsame Männer (gespielt von Matt Damon und Casey Affleck) auf eine unfreiwillige Selbstfindungsodyssee durch die Wüste geschickt, ein Film der atmosphärisch - und durchaus auch thematisch - starke Bezüge zu Van Sants "My Own Private Idaho" aus dem Jahre 1993 herstellt. Auch in "Good Will Hunting" (1997), "Paranoid Park" (2007) und "Milk" (2008) stehen gesellschaftliche Außenseiter und deren soziales Umfeld im Fokus. Eine weitere Gemeinsamkeit von "Elephant" und "Gerry" (und natürlich "Milk", der hier allerdings außen Acht gelassen sei) findet sich im Bezug der Filme auf wahre Begebenheiten, wobei sich beide jedoch nur lose daran orientieren. Während "Gerry" in seiner Grundhandlung auf der Geschichte Raffi Kodikians und David Coughlins basiert, verarbeitet Van Sant in "Elephant" ein deutlich brisanteres Ereignis: Das Schulmassaker von Littleton, bei dem 1999 an der Columbine High School dreizehn Menschen von zwei jugendlichen Amokläufern getötet wurden. Doch während es Van Sant in "Gerry" noch gelungen ist der vorliegenden Geschichte eine bedeutungsschwere Komponente hinzuzufügen, verpasst er diese Chance in "Elephant".

Bereits die erste Einstellung des Films spricht unmissverständlich aus, in welche Richtung Van Sants Inszenierung geht. Einem Videospiel gleich verfolgen wir in gleichbleibenden Abstand aus der Vogelperspektive ein fahrendes Auto. So eindrucksvoll konsequent die Kameraarbeit Harris Savides' in "Elephant" auch sein mag, sie vermittelt etwas Deplatziertes und stellt den Bezug zum wohl beliebtesten Begründungsklischee der Amokläufe der letzten Jahrzehnte her: Ego-Shooter. Die Perspektive des Third-Person-Shooters findet sich während des gesamten Films bei allen Figuren wieder, vorzugsweise beim jeweils alleinigen Durchstreifen der Schulkorridore. Es lässt sich argumentieren, dass dieser Bezug gar nicht gewollt ist, und besagte Einstellungen - wie schon in "Gerry" - lediglich die Isolation der einzelnen Figuren betonen sollen (eine Aussage, die sich durch das Paar Nathan und Carrie untermauern ließe, da zwar die Third-Person-Shooter-Perspektive bei ihnen beibehalten wird, sie jedoch zu zweit durch die Gänge waten und somit als Gegenstück zu den restlichen, einsamen Charakteren agieren), allerdings wirkt diese Begründung spätestens in der Szene, in der Elias auf seinem Laptop einen Ego-Shooter spielt, scheinheilig. Die Bezüge auf Videospiele jenes Genres sind in "Elephant" schlicht und einfach zu omnipräsent und zu stereotyp, um effektiv zu funktionieren. Eindrucksvoll bleibt dennoch, wie wundervoll Van Sant und Savides mit langen Einstellungen, sehr konzisen, ruhigen Dialogen und Aufnahmen aufziehender Wolken das Gefühl der Ruhe vor dem Sturm (vor dem Amoklauf) zu vermitteln wissen. 

Man könnte argumentieren, dass die Inszenierung des Films als Videospiel die Psyche der Amokläufer veranschaulichen, und die Unerklärlichkeit und die Unberechenbarkeit einer Tat wie dieser betonen soll, doch Van Sant ist dabei zu inkonsequent, er ist zu mutlos und hindert so "Elephant" daran, einer der wichtigsten Filme des letzten Jahrzehnts zu werden. Zu krampfhaft versucht er gegen Ende doch noch Gründe für die Tat zu finden, zu verbissen etabliert er Alex als den massiv gemobbten, introvertierten Außenseiter. Die innige Beziehung mit Elias schottet Alex noch weiter ab, besonders im gemeinsamen Spielen der Ego-Shooter scheinen sie sich zwischen Realität und Fiktion zu verlieren, wie Alex' Kommentar - "Most importantly, have fun!" - kurz vor der Hinfahrt zur Schule zeigt. Die Absurdität erreicht Van Sant spätestens, als er die beiden angehenden Amokläufer beim Ansehen von Archivaufnahmen aus der NS-Zeit zeigt. Die Szene wird nicht weiter erläutert, Van Sant stellt sie schlicht und einfach in den Raum, und doch ist die Botschaft so deutlich und gleichzeitig so trivial, so geistlos. Die Ironie der gesamten Begründungsversuche findet sich bereits im Titel des Films, welcher sich - so Van Sant - auf eine Parabel des Buddhismus bezieht, in der fünf Blinde einen Elefanten untersuchen und dabei jeweils zu unterschiedlichen Resultaten kommen. Auf den Film angewandt, will Van Sant mit dieser Parabel sagen, dass man beim Suchen nach einer einzigen Begründung für Gewalt alle anderen Erklärungen negiere. Doch seltsamerweise begeht Van Sant genau diesen Fehler, auch wenn er - anstatt eine einzige anzuführen - mehrere Begründungen für die eruptive Gewalt zeigt und koppelt, doch den Mut die kaum vorhandene Begreiflichkeit einer derartigen Tat zu zeigen, bringt er nicht auf, wodurch "Elephant" in seiner Intention und Wirkung scheitert.

Montag, 22. August 2011

Innocence and white flowers...

Letter from an Unknown Woman
Brief einer Unbekannten
(Max Ophüls, 1948)

Im Wien um 1900 kehrt der Konzertpianist Stefan Brand (Louis Jourdan) nur wenige Stunden vor einem bevorstehenden Duell, dessen Anlass ihm schleierhaft ist, nach Hause zurück und bereitet sich auf seine Flucht vor, in der Erwartung der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Vor dem Verlassen der Stadt wird Stefan jedoch ein scheinbar an ihn adressierter, mehrseitiger Brief übergeben, welcher mit den Worten "By the time you read this letter, I may be dead" beginnt. Gefesselt von den ersten Zeilen entschließt sich Stefan den gesamten Brief zu lesen, auch wenn ihm nicht klar wird, wer die Verfasserin der Nachricht sein könnte. Im Brief erzählt die mysteriöse Unbekannte, die den Namen Lisa Berndl (Joan Fontaine) trägt, wie sich später herausstellt, von ihrem Leben, angefangen von ihrer ersten Begegnung mit Stefan, als sie im zarten Alter von fünfzehn noch im selben Gebäude wohnte wie der Pianist. Sie berichtet von ihrer Faszination von Stefans Musik, der sie, im Innenhof des Gebäudes sitzend, regelmäßig gelauscht hat. Es ist der Brief einer verzweifelten Frau, die sich unsterblich in einen Mann verliebt hat. Doch die Vergangenheit der beiden ist dichter verwoben, als es die eröffnenden Zeile des Briefes erahnen lassen, auch wenn Stefan anfangs die Erinnerungen nicht in seinen Kopf zu rufen vermag.

"Letter from an Unknown Woman" basiert auf Stefan Zweigs Novelle "Brief einer Unbekannten" aus dem Jahr 1922 und war die erst zweite Regiearbeit Ophüls' in den USA. Max Ophüls, geboren Maximilian Oppenheimer, war bereits 1933 als Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns aus Deutschland geflohen, zuerst für neun Jahre nach Frankreich, danach, ab 1942, in die USA. Bereits während seiner Zeit in Deutschland und Frankreich machte er sich einen Namen als Regisseur hervorragender Literaturverfilmungen, so brachte er 1931 "Dann schon lieber Lebertran", nach einer Vorlage Erich Kästners, 1933 "Liebelei", nach einem Werk Arthur Schnitzlers und 1938 "Werther", basierend auf Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" auf die Leinwand. "Letter from an Unknown Woman" hebt sich aus den restlichen Hollywood-Filmen Ophüls' deutlich hervor, da er sich auf die Stärken seiner wesentlich sinnlicheren europäischen Filme beruft, denn Ophüls griff mit der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Liebe ein Thema wieder auf, welches sich durch seine frühen Filme bereits als Markenzeichen etabliert hatte. 

Die Tragik im "Letter from an Unknown Woman" findet sich darin, dass die Handlung des Films zum größten Teil in der Vergangenheit spielt, und somit der Eingriff ins Geschehen für den Protagonisten nicht mehr möglich ist. Man fühlt sich durchaus an Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" erinnert, da die Form des Briefromans einen ähnlichen Effekt hervorruft: Das Vergangene bleibt vergangen, es lässt sich nicht mehr ändern. Besonders mit der Einleitung ihres Briefes stellt Lisa in "Letter from an Unknown Woman" klar, dass die Geschichte bereits abgeschlossen ist, sie Stefan jedoch vor ihrem Tod noch ihr Herz ausschütten muss. Durch die einseitige Betrachtungsweise des Geschehenen - immerhin erfahren wir nur Lisas Geschichte - bleibt auch unklar, inwiefern die Ausführungen Lisas der Wahrheit entsprechen. In vielen Momenten scheint sie in einer Traumwelt gelebt zu haben, in einem Märchen, als hätte sie alles durch eine rosarote Brille gesehen.

Besonders eindrucksvoll wirkt auch, wie Ophüls vereinzelt mit Metaphern arbeitet, am deutlichsten wohl im Einsatz der weißen Rose, welche Lisa in einer Szene von Stefan geschenkt bekommt. Auffällig ist, wie sich Lisa in ihrer eignen Erzählung als unschuldiges, beinahe frigides Wesen zeichnet, ein Punkt, welcher durch die einzelne, zerbrechliche, weiße Rose verstärkt wird. Erst in der Kussszene verschwindet die Rose hinter dem Rücken Stefans, sie wird von den Zuseher unsichtbar, und deutet somit den Unschuldsverlust Lisas an. Das Bild und die Bedeutung der weißen Rosen findet sich auch gegen Ende des Films wieder. Und auch wenn Ophüls in einer der Schlussszenen etwas dick aufträgt und dem Zuseher eine Assoziation vorwegnimmt und somit der Schlussszene etwas den Tiefgang nimmt, bleibt "Letter from an Unknown Woman" eine bewegende Kritik an dem (vielleicht stereotypen) männlichen Standpunkt zur Liebe und ihrer damit verbundenen Flüchtigkeit.