Sonntag, 3. Juli 2011

Sticking your Flag in the Ground.

This is England
(Shane Meadows, 2006)

England, 1980er: Nach dem Verlust seines Vaters, welcher im Falklandkrieg gefallen ist, wächst der zwölfjährige Shaun (Thomas Turgoose) unter der Obhut seiner alleinerziehenden Mutter (Jo Hartley) in bescheidenen Verhältnissen auf. In der Schule ist der Bub ein biederer Außenseiter, er wird aufgrund seiner Kleidung und seines Aussehens gehänselt und wird im Zuge eines Witzes über den Tod seines Vaters handgreiflich. Nach der Schlägerei wird Shaun vom Direktor auf den Heimweg geschickt, wo er unerwartet auf eine Bande junger Skinheads stößt. Woody (Joseph Gilgun), der Anführer der Clique, wird augenblicklich auf den mit gesenktem Haupt nach Hause watenden Jungen aufmerksam und bittet ihn, sich zu den Mitgliedern der Bande zu setzen. Langsam gelingt es der Bande, Shaun aufzumuntern, ihn auf andere Gedanken zu bringen und ihn Akzeptanz spüren zu lassen. Die Clique nimmt ihn bei sich auf und zeigt ihm eine Welt der Freundschaft und des Zusammenhalts vollkommen abseits nationalistischer, rechtsradikaler Grundsätze. Sie sind vielmehr eine Gruppe von Freunden als von Skinheads, doch das Klima verändert sich als Combo (Stephen Graham), der einstige Kopf der Bande, nach mehrjährigem Gefängnisaufenthalt zurückkommt und die Truppe aufmischt. Die Clique beginnt an seinen Motivationen und Ansichten zu zerbrechen, Shaun jedoch findet in Combo eine prägende Vaterfigur.

Der 1972 geborene Shane Meadows zählt ohne Frage zu den interessantesten, aufstrebenden Regisseuren Europas. Wie die meisten Helden seiner Filme ist auch Meadows als Außenseiter und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater arbeitete als LKW-Fahrer, während seine Mutter ihr Geld in einem Fish and Chips-Stand verdiente. Aufgrund von kleineren Vergehen und Diebstählen wurde er von der Schule verwiesen bevor er seinen Abschluss machen konnte.  Mit 20 zog er nach Nottingham, wo er gemeinsam mit Ortsansässigen seine ersten Kurzfilme drehte und auf dem College Paddy Considine kennenlernte. 1995 lieferte er seine erste Arbeit fürs Fernsehen ab, ein Jahr später kam mit "Small Time" sein erster Spielfilm. Es folgten unter anderem "A Room for Romeo Brass" (1999), "Once Upon a Time in the Midlands" (2002), "Dead Man's Shoes" (2004) und "This is England" (2006). Auffällig in Meadows Filmen sind häufig starke autobiographische Bezüge. So spielen sie zumeist in ärmeren Teilen der Midlands, in denen Meadows aufgewachsen ist, und handeln von Jugendlichen oder gar Kindern, die mit ihrem Umfeld zu kämpfen haben. Die deutlichsten Bezüge finden sich wohl einerseits in "A Room for Romeo Brass", welcher in der Freundschaft der Hauptfiguren die Beziehung zwischen Meadows und dessen besten Freund Paul Fraser widerspiegelt, und andererseits in "This is England", in dem Meadows seine Zeit in einer Skinheads-Bande verarbeitet. Momentan arbeitet Meadows an der Miniserie "This is England '86", welche vom späteren Leben der Hauptfiguren des Films handelt.

Mit "This is England" ist Shane Meadows eine unheimlich vielschichtige und äußerst kritische Milieustudie gelungen, die besonders von ihrem mutigen Drehbuch, ihren tiefen Charakteren und deren Darstellern lebt. Beeindruckend ist vor allem, wie Meadows hier keine einfache, oberflächliche Kritik am Nationalismus ausübt, sondern wesentlich tiefer bohrt. Er kritisiert die jugendlichen Außenseiter, die als Skinheads ihre Zusammengehörigkeit ausleben, ohne zu realisieren, was sie dadurch verkörpern. Sie sind naiv und werden von der Rückkehr Combos überrumpelt. Jene von ihnen, die der Ideologie und Gehirnwäsche Combos nicht folgen wollen, behalten zwar recht, schaffen es jedoch nicht Shaun, der sich auf der verzweifelten Suche nach Anerkennung von einer fehlenden Vaterfigur befindet, mitzunehmen. Sie lassen ihn zurück, weswegen Combo die ersehnte Vaterfigur für den Jungen spielt. Zwar ist er ein ignoranter, gewaltbereiter, rechtsradikaler Patriot, ein extremer Nationalist eben, gleichzeitig jedoch ist er ein warmherziger Beschützer für Shaun. Er hat selbst mit Problemen zu kämpfen, er scheitert, er ist schlicht und einfach menschlich. Das Ende, insbesondere der Bruch der vierten Wand - zählt wohl zu den aussagekräftigsten Momenten des Kinos der letzten Jahre. Ein knallhartes Fazit zu einer Generation, zu Margaret Thatcher und zu einer gesamten Nation.

Dienstag, 21. Juni 2011

Dealing with a lack of time...

Never Let Me Go
Alles, was wir geben mussten
(Mark Romanek, 2010)

In Rückblicken erinnert sich Kathy (Carey Mulligan) an ihre Kindheit in Hailsham, einem strengen Internat, wo sie mit ihren Freunden Ruth (Keira Knightley) und Tommy (Andrew Garfield) unter der Aufsicht der herrischen Internatsleiterin Miss Emily (Charlotte Rampling) in den 70er Jahren aufgewachsen ist. Hailsham ist damals vor seiner Schließung als gewöhnliche Lehranstalt getarnt worden, die Kinder dort sind unterrichtet, belehrt und bei Vergehen bestraft worden, doch die Aufmerksamkeit, welche die Lehrer den Kindern gewidmet haben, ist keiner Norm entsprechend gewesen. Ohne ihr Mitwissen sind die Kinder anfangs strengstens überwacht worden, auch ihre gesundheitliche Verfassung hat man stets im Auge behalten, die Kinder jedoch ahnten nichts, bis eines Tages die Lehrerin Miss Lucy (Sally Hawkins) ihren Schülern von Schuldgefühlen geplagt erzählt hatte, dass sie kein sehr langes oder erfüllendes Leben führen würden, da ihr Leben nur einem Zweck diene: Der Rettung anderer Menschen. Laut Miss Lucy habe man die Kinder nach dem Vorbild anderer Menschen erschaffen und sie so großgezogen, dass sie als gesunde Organspender ihre Dienste leisten könnten. Die Jahre verstreichen, Kathy verliebt sich in Tommy, dieser jedoch verfällt Ruth, wodurch Beziehungen zwischen den drei Freunden zu Bruch gehen, während sie gleichzeitig versuchen damit fertigzuwerden, einem sicheren, verfrühten Ende entgegenzuschreiten.

Mark Romanek (geboren 1959 in Chicago, Illinois) zeigte schon früh Interesse am Umgang mit der Kamera und belegte nach seinem Besuch der Highschool einen Filmkurs. Im Anschluss daran wechselte er ans Ithaka College in New York, wo er im Fach Fotografie seinen Abschluss machte. Für Brian de Palmas Independent-Film „Home Movies“ (1980) absolvierte er in der Funktion des Regieassistenten seine ersten Schritte auf filmischen Terrain. Fünf Jahre später nahm er erstmals selbst das Ruder in die Hand und inszenierte mit „Static“ (1985) einen Film über einen schrulligen Arbeiter einer Kruzifix-Fabrik, der eine Maschine erfindet, die seines Erachtens Bilder des Himmels zu zeigen vermag. Nachdem die ihm nahestehenden Menschen beim Blick in die Maschine nichts zu erkennen scheinen, entführt der seltsame Erfinder kurzerhand einen von älteren Leuten befahrenen Bus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu lenken. Das Drehbuch des Films entsprang einer Zusammenarbeit Romaneks mit Keith Gordon, welcher auch die Hauptrolle in „Static“ übernahm. Neben Gordon standen auch Amanda Plummer und Bob Gunton – beide damals an den Anfängen ihrer Karrieren – vor der Kamera. Romanek wurde 1986 für den Großen Preis der Jury beim Sundance Film Festival (welcher in jenem Jahr an „Smooth Talk“ [1985] von Joyce Chopra ging) nominiert, wodurch seine Karriere Schwung aufnahm – wenn sie auch gleichzeitig einen neuen Weg einschlug, denn Romanek machte sich in den darauffolgenden Jahren in erster Linie als Musikvideofilmer einen Namen. Keith Richards, Lenny Kravitz, David Bowie, Madonna, Iggy Pop, Nine Inch Nails und Michael Jackson sind nur einige Namen, welche ihre Videos von Romanek inszenieren ließen. Erst 2002 kehrte Romanek mit „One Hour Photo“ (2002), einem Film über einen Foto-Entwickler, welcher zum Stalker wird, zum Spielfilm zurück. 2010 folgte nach weiteren Musikvideos – unter anderem für Johnny Cash, Linkin Park und Coldplay – Romaneks dritter Spielfilm: „Never Let Me Go“ (2010), basierend auf dem gleichnamigen Roman des in Japan geborenen, britischen Autors Kazuo Ishiguro.

„Never Let Me Go“ zeichnet das Bild einer dystopischen Gesellschaft, in der das Schicksal einzelner Menschen bereits vorbestimmt wird, um der Menschheit zu helfen. Der Mensch wird dabei zum Nutztier, er wird gezüchtet, aufgezogen, ausgeschlachtet, entleert. Ohne die literarische Vorlage zu kennen, fällt in Romaneks Umsetzung dennoch eines deutlich auf: Anstatt den ethischen Diskurs aufzugreifen und die Brutalität jener Dystopie und der vorbestimmten Organspende mit der heutigen Gesellschaft zu verbinden und zu vergleichen, bleibt Romanek oberflächlich, er bleibt zu vorsichtig. Er verwandelt die Handlung in eine Love-Story, die sich nur am Rande mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit, der Hoffnungslosigkeit, des Verlorenseins seitens der Hauptfiguren befasst. In der Liebe suchen sie den Ausweg, durch sie hoffen sie ihrer prädestinierten Zukunft zu entfliehen, darin liegt auch die Stärke und der Tiefgang des Films, gleichzeitig jedoch scheut Romanek große Worte zu sprechen, eine tatsächliche Aussage in seinem Film zu packen. So bleibt Romaneks Film zwar eine gelungene Verfilmung der Dreiecksbeziehung der Hauptfiguren, der Wertinhalt, welcher der Romanvorlage nachgesagt wird, findet sich in ihr dennoch nicht wieder.

Freitag, 3. Juni 2011

Kafka und Haneke

Das Schloß
(Michael Haneke, 1997)

Während eines späten Winterabends trifft der bestellte Landvermesser K. (Ulrich Mühe) in einem, an ein gräfliches Schloss gebundenes, Dorf ein und sucht ein Quartier für die Nacht. Obwohl alle Zimmer belegt sind, gestattet der Wirt des Brückenhofes (Otto Grünmandl), des örtlichen Wirtshauses, dem zu so später Stunde noch Reisenden im Ausschank seines Gasthauses zu nächtigen. K. nimmt das Angebot an und legt sich auf einer Bank nahe den Bauern, welche den Abend im Brückenhof trinkend verbringen, hin, um sich auszuruhen, schon bald wird er jedoch von Schwarzer (Martin Brambach) aus dem Schlaf gerissen und unfreundlich darauf hingewiesen, dass der Aufenthalt im Dorf nur mit Genehmigung des Schlosses erlaubt sei. Als K. erwidert, dass er der bestellte Landvermesser sei, reagiert Schwarzer mit Missgunst, denn, so sagt er, wisse er nichts von einem Landvermesser. Erst nach zwei Telefonaten mit dem Schloss erweist sich K.s Aussage als wahr, woraufhin ihm die Nächtigung gewährt wird. Am nächsten Morgen treffen K.s Gehilfen Artur (Frank Giering) und Jeremias (Felix Eitner) ebenfalls im Brückenhof ein und gestehen, ganz zum Ärger K.s, die für die gemeinsame Arbeit benötigten Gerätschaften vergessen zu haben. K. versucht daraufhin mit dem Schloss in Kontakt zu treten, was auch gelingt, geholfen wird ihm jedoch nicht. Erst durch den privaten Boten Barnabas (Andre Eisermann), welcher an jenem Tag ebenfalls erstmals K. aufsucht, wird eine Verbindung zwischen K. und dem hohen Beamten Klamm hergestellt. Dennoch wird K. nicht informiert, wofür er im Dorf eigentlich benötigt wird, außerdem fehlt ihm sowohl das Werkzeug als auch kompetente Gehilfen, um seine Arbeit auszuüben. Verbissen versucht K. fortan an Klamm heranzukommen, ihm seine Anliegen persönlich vorzubringen, doch das mysteriöse Machtkonstrukt des Schlosses scheint unantastbar zu sein und K.s Vorhaben zu vereiteln. Im Herrenhof lernt er eines Abends das Ausschankmädchen Frieda (Susanne Lothar) kennen, eine Geliebte Klamms, zu der er sich ungewöhnlich hingezogen fühlt und gleichzeitig wohl hofft, durch sie mit Klamm in Verbindung treten zu können.

"Das Schloss" (häufig auch "Das Schloß" geschrieben) ist neben "Der Proceß" ("Der Prozess") und "Der Verschollene" einer der drei unvollendeten Romane des 1924 verstorbenen, österreichisch-ungarischen Autors Franz Kafka. Nach einem nervlichen Zusammenbruch und langen Schreibproblemen begann Kafka 1922 mit seinem Roman, als er sich zusammen mit seinem Arzt auf einem Erholungsaufenthalt im tschechischen Spindlermühle am Fuße der Schneekoppe im Riesengebirge befand. Im tief verschneiten Dorf schöpfte Kafka neue Hoffnung und ließ die Atmosphäre seiner Umgebung in sein neuestes Manuskript einfließen. Auch nach seinem Aufenthalt im nordtschechischen Städtchen schrieb Kafka für über ein halbes Jahr weiter an "Das Schloss", musste den Roman allerdings nach einem weiteren Nervenzusammenbruch im September 1922 beiseite legen und gab ihn infolgedessen ganz auf. 1923 übergab er das unvollendete Manuskript seinem langjährigen Freund und Nachlassverwalter Max Brod, welcher es zwei Jahre nach Kafkas Tod gegen dessen Willen veröffentlichte. Zwar existiert ein mündlich an Max Brod weitergegebenes Ende, ein abschließendes Kapitel konnte Kafka jedoch nicht mehr verfassen.

1997 adaptierte Michael Haneke den Roman in Form einer TV-Produktion und besetzte mit Susanne Lothar und Ulrich Mühe zwei Schauspieler, die mitunter auch aufgrund ihrer wiederholten Zusammenarbeit mit Haneke in dessen deutschsprachigen Produktionen (ausgenommen "La Pianiste" [2001], in welchem Susanne Lothar ebenfalls eine Rolle besetzt) heute große Bekanntheit genießen. Auch der erst kürzlich verstorbene Frank Giering, welcher mit Lothar und Mühe noch im selben Jahr für Hanekes "Funny Games" vor der Kamera stand, spielt als Gehilfe K.s eine bedeutende Rolle in "Das Schloß".

Beeindruckend ist, wie es Michael Haneke mit "Das Schloß" gelingt eine weitgehend werkgetreue Verfilmung der Vorlage abzuliefern und gleichzeitig dem ganzen seinen persönlichen Stempel aufzudrücken. Während Haneke einerseits dem Roman in vielen Details treu bleibt (selbst die Kapitel macht er in Form von extrem harten Schnitten im Film erkennbar) und einige Dialoge sogar 1:1 aus Kafkas Vorlage übernimmt, geht er gleichzeitig - wie üblich - sehr sparsam mit musikalischer Untermalung um und zeigt seine Handschrift besonders in den Szenen, in denen die filmische Umsetzung sich von der Vorlage geringfügig distanziert. Im Buch wird zum Beispiel beim ersten Aufeinandertreffen von K. und Frieda, der Geliebten Klamms, K. angeboten, er könne durch ein Loch in der Wand des Herrenhofes blicken, und werde hinter der Wand den in seinem Büro schlafenden Klamm erblicken. In der Vorlage wird beschrieben: 
"An einem Schreibtisch in der Mitte des Zimmers, in einem bequemen Rundlehnstuhl, saß, grell von einer vor ihm hängenden Glühlampe beleuchtet, Herr Klamm. Ein mittelgroßer, dicker schwerfälliger Herr. Das Gesicht war noch glatt, aber die Wangen senkten sich doch schon mit dem Gewicht des Alters ein wenig hinab. Der schwarze Schnurrbart war lang ausgezogen. Ein schief aufgesetzter, spiegelnder Zwicker verdeckte die Augen." [S. 44]*
Der Blick durchs Guckloch in Hanekes "Das Schloß"
Obwohl Haneke den auktorialen Erzähler Kafkas beibehält, bricht er dieses Schema der Allwissenheit in vereinzelten Szenen, wie zum Beispiel auch hier beim Aufeinandertreffen K.s und Friedas. Obwohl der Blick durch das Guckloch auch bei Haneke vom Protagonisten gewagt wird, bleiben wir in Unwissenheit, was oder wen er dort hinter der Wand denn erblickt hat. Während bei Kafka diese Wand zwischen K. und Klamm einerseits zwar als Ausdruck eines unüberwindbaren Hindernisses dient und die Beschreibung Klamm gleichzeitig für den Leser erstmals real und menschlich werden lässt, spielt die Szene in der Verfilmung eine etwas andere Rolle. Haneke vermeidet die Beschreibung des Beamten bewusst, damit in seiner Adaption mit fortlaufender Handlung die Unantastbarkeit Klamms noch schwerer ins Gewicht fällt. Hier scheint Hanekes Stil deutlich durch, denn das nicht-visuelle Wiedergeben von Schlüsselszenen ist ein Markenzeichen seinerseits, man denke nur an "Benny's Video" (1992) oder "Funny Games" (1997). Bei Kafka ist es zwar auch Klamm, dessen Begegnung von K. angestrebt wird, allerdings ist das Hauptaugenmerk nicht er, sondern die gesamte autoritäre, undurchschaubare Hierarchie und Bürokratie des Schlosses. Bei Haneke steht der Name "Klamm" praktisch als Synonym dafür.

Die Verführung in der Schule - Hanekes "Das Schloß"
Auch das Motiv der Sexualität kommt bei Haneke verstärkt zum Vorschein, während es bei Kafka - zeitgemäß - im Grunde ausgeklammert beziehungsweise nur angedeutet wird. Im Roman empfinden ungewöhnlich viele Frauen eine Zuneigung zu K., selbst Außenstehende, wie eine Schwester des Boten Barnabas oder das spätere Ausschankmädchen Pepi im Herrenhof fühlen sich zu ihm hingezogen. Zwar verarbeitet auch Haneke diese Tatsache in seinem Film, jedoch drückt er durch die Darstellung der Sexualität einen Aspekt aus, welcher bei Kafka lediglich durch Dialoge angerissen wird. K. ist fähig seine Mitmenschen bis zu einem gewissen Grad zu manipulieren, was im Film in zwei Szenen besonders stark zur Geltung kommt. K. verführt Frieda zweimal: Beim ersten Mal gleich nach ihrem Kennenlernen noch im Ausschank des Herrenhofes; beim zweiten Mal in einem leeren Klassenraum der Schule, in der K. als Schuldiener tätig ist. In beiden Fällen handelt es sich praktisch um riskante Tabubrüche: im ersten Fall verkehren sie im Raum neben Klamms Büro (in welchem er schläft), im zweiten Fall wird der Akt sogar durch einen den Raum betretenden Schüler unterbrochen. Das beinahe Jelinek'sche Motiv der sexuellen Manipulation findet sich bei Haneke laufend, nicht nur in der Jelinek-Verfilmung "La Pianiste" (2001).

Hervorzuheben ist abermals, wie großartig es Haneke gelingt, Kafkas Stil filmisch umzusetzen. Bereits die winterliche Kulisse - von Jirí Stibr perfekt eingefangen - gibt die Atmosphäre des Buches eindrucksvoll wieder. Auch das Szenenbild überzeugt durch seine üppigen, vom Alter gezeichneten Holzhütten. Besonders positiv ist zu vermerken, dass Haneke nicht das mündlich überlieferte Ende selbst zu interpretieren, umzusetzen und an den Film zu hängen gewagt, sondern sich aufs Wort genau an die Vorlage gehalten hat. So ist "Das Schloß" ein zu unrecht häufig übersehener Film Hanekes und gleichzeitig neben Orson Welles' "The Trial" (1962) die einzige - mir bekannte - wirklich gelungene Verfilmung eines Werks Kafkas.

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Montag, 23. Mai 2011

Carrying a big can of paint...


Exit Through the Gift Shop
(Banksy, 2010)

Thierry Guetta ist ein leidenschaftlicher Filmer, der sein Haus praktisch nie ohne seine Kamera verlässt und auch im Kreise seiner Familie alles auf Bändern festhält. Während eines kurzen Aufenthalts in seiner französischen Heimat erkennt Theirry, dass sein Cousin der ambitionierte Invader ist, ein Street Artist, welcher aus kleinen quadratischen Plättchen mosaikartige Abbilder der Figuren aus dem Spiel „Space Invaders“ bastelt und diese an Wänden anklebt. Thierry beginnt, unter dem Vorbehalt einen Dokumentarfilm zu drehen, seinen Cousin und dessen Bekanntschaften bei ihrer Arbeit zu filmen. Als Guetta im Gegenzug Monate später von seinem Cousin besucht wird, öffnet sich ihm Tür zu den Größen der Street Art-Szene, denn Invader hat ein Treffen mit Shepard Fairey organisiert, welcher dem scheinbaren Dokumentarfilmer noch tiefere Einblicke in die Welt der Straßenkunst gewährt. Nach einiger Zeit hat Guetta die herausragendsten Bekanntheiten bereits vor der Kamera gehabt, einzig der mysteriöse Banksy fehlt ihm noch.

Unter dem Pseudonym Banksy arbeitet seit den frühen 90ern ein Street Art-Künstler, welcher mittlerweile zu den berühmtesten Figuren der Szene zählt. Hinter dem Namen verbirgt sich wahrscheinlich der 1973 geborene Brite Robin Gunningham, welcher in seinen künstlerischen Anfangsjahren mit besonderer Vorliebe fremde Wände in Bristol und London schmückte, jedoch sein „Revier“ im Zuge gestiegener Popularität expandierte und heute in zahlreichen Städten rund um den Globus verewigt ist. Thierry Guetta lautet der tatsächliche Namen des französischen Filmemachers, aus dessen Sammlung die Aufnahmen der dokumentierten Street-Artists stammt, um die es sich zu Beginn von „Exit Through the Gift Shop“ dreht. Guetta verspürte jedoch ausgelöst durch seine Bekanntschaften und Beziehungen die Anziehungskraft der Straßenkunstszene und begann unter dem Decknamen Mr. Brainwash selbst als freischaffender Künstler Bekanntheit zu erlangen.

Die kontrastierenden Unterschiede zwischen Banksy und Mr. Brainwash sind einerseits ein Hauptaugenmerk des Films, welches massive Kritik sowohl an der massenkompatiblen Kunst als auch am durchschnittlichen Kunstkonsumenten ausübt und andererseits auch eine Welle an Spekulationen ausgelöst hat, welche Teile des Films denn wirklich authentisch sind beziehungsweise ob es sich bei „Exit Through the Gift Shop“ tatsächlich um eine Dokumentation handelt. Der Perspektivenwechsel zwischen Guetta und Banksy, bei dem die dokumentierten Aufnahmen Guettas verabschiedet werden und aus Banksys Sicht weitererzählt wird, verlieht dem Film eine vollkommen eigene Atmosphäre, er erschafft das Gefühl einer fiktiven Ebene, die Zweifel an den als Wahrheit präsentierten Fakten aufkommen lässt. Kritisiert wird vielerorts auch der unrealistisch rasante Aufstieg Guettas in der Kunstszene, den Banksy selbst mokant kommentiert:

„Most artists take years to develop their style, Thierry seemed to miss out on all those bits.“
Dass die schrullige Figur Guettas durch Bemerkungen wie „I don't know how to play chess, but to me, life is like a game of chess“ auch seinen Beitrag zum allgemeinen Zweifel an der Authentizität des Films leistet, ist selbstredend, selbiges gilt auch für (eventuell) widersprüchliche Aussagen im Bezug auf Thierry Guettas Video-Sammlung. Irgendwo in der Mitte des Films scheint die Grenze zwischen Realem und Schwindel zu versickern. Es geht aus „Exit Through the Gift Shop“ nicht eindeutig hervor, ob Guetta nicht vielleicht doch nur ein von Banksy erschaffenes Mysterium ist, ein ausgetüfteltes Experiment quasi, welches während seiner Entstehung und Entwicklung so eingefangen wurde, dass sich dieser dokumentarische Stil entwickelt hat. „Exit Through the Gift Shop“ könnte ein weiteres Kapitel in Banksys künsterlischem Schaffen darstellen, ein kritischer Scherz quasi, Satire in Dokumentarverkleidung.

Doch ob dies tatsächlich der Fall ist oder nicht, wird den Stoff für zahlreiche Diskussionen der nächsten Jahre liefern, auch wenn es vielleicht gar keine so große Rolle spielt. Vielmehr verpackt Banksy in seinem Film Kritik einerseits an den zu leicht manipulierbaren, selbsternannten Kunstkennern und andererseits auch an den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Thierry Guetta, dem gebürtigen Franzosen, der in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist und trotz erdrückender Talentlosigkeit praktisch über Nacht zu Star geworden ist, steht der verschwiegene, auf seine Anonymität bedachte Banksy gegenüber, welchem erst nach langen Jahren der Arbeit die Anerkennung zuteil wurde, die er verdient. Der Konsument sieht im letztendlichen Werk nie die Vorgeschichte des Künstlers, der Blick hinter die Fassade wird nicht gewagt. Oder vielleicht wird er nicht mehr gewagt, denn Banksy kritisiert die von etablierten Künstlern der Szene kopierten und minimal modifizierten Werke Mr. Bainwashs:

„Warhol repeated iconic images until they became meaningless, but there was still something iconic about them. Thierry really makes them meaningless.“
Vielleicht ist es erst unsere Generation, die mit einem Überfluss an Kunst umspült wird und nicht mehr den kritischen Blick wagt, sich nicht mehr traut, das zu hinterfragen was sie sieht, und stattdessen lieber auf Altbewährtes setzt, und die Konfrontation mit dem Neuen, dem eventuell Kontroversen scheut. Wer weiß schon genau, um wen bzw. worum es sich bei Banksy, „Exit Through the Gift Shop“ und Mr. Brainwash tatsächlich handelt, doch was spielt das schon für eine Rolle. Kritisch und ein ebenso couragiertes Projekt ist der Film alle mal, ganz unabhängig davon, ob es dabei nun um eine Documentary oder eine Mockumentary handelt.

Samstag, 14. Mai 2011

Past, Present, Future and Imagination.

La Jetée
Am Rande des Rollfelds
(Chris Marker, 1962)

Einen namenlosen Mann (Davos Hanich) lässt eine fragmentarische Erinnerung an eine Episode seiner Kindheit nicht mehr los. Er erinnert sich an den Flughafen Paris-Orly, auf dessen Anlegesteg er an jenem Tag unterwegs gewesen ist, und wo das reizende Antlitz einer Frau (Hélène Chatelain) des Buben Blick auf sich gezogen hat. Das Ereignis steht in fester Verbindung mit der Konfrontation des Mannes mit dem Ausbruch des dritten Weltkrieges, welcher den Moment zeichnet. Nicht wissend, ob er das Gesicht der fremden Frau je wirklich zu Gesicht bekommen hat oder ob es nur ein in des Mannes eigener Imagination verwurzeltes Bildnis darstellt, beschäftigt und fasziniert die unbekannte Frau am Flughafen den Mann während den Zeiten des Krieges. Erst Jahre später wird ihm bewusst, dass er damals als Kind noch etwas anderes beobachtet hat. Es war der Tod eines Mannes, welcher sich ebenfalls am Steg befunden hatte. Im Zuge des dritten Weltkriegs ist die Stadt Paris durch Angriffe dem Erdboden gleichgemacht worden, die hohe Radioaktivität an der verseuchten Oberfläche zwingt die letzten Überlebenden dazu im Pariser Untergrund, in den Katakomben zu leben. Die Deutschen, welche siegreich aus dem Krieg hervorgegangen sind, schicken Forscher in jene unterirdischen Gänge, um dort mit Gefangenen Zeitreise-Experimente zu unternehmen, bei denen die Versuchspersonen einen Abstecher in ihre Vergangenheit unternehmen und sich dort Informationen bezüglich der Aufbewahrung von Nahrungsmitteln und Medikamenten aneignen sollen, welche das Überleben der in den Katakomben lebenden Menschen sichern sollen. Die Versuche schlagen jedoch fehl, die Versuchskaninchen sind nicht fähig die nötigen Auskünfte zu liefern, sondern drehen im Zuge der Reisen durch oder versterben gar durch den Schock. Um den Schockfällen entgegenzuwirken suchen die Forscher von da an nach Gefangenen, welche mit intensiven Erinnerungen oder Träumen aus der Zeit vor dem Krieg konfrontiert sind, da sie der Meinung sind, dass dies eben jene Erschütterung  der Versuchspersonen verhindern könnte. Dabei stoßen sie auf den Mann mit den mysteriösen Erinnerung aus seinen Kindheitstagen.

In nur in etwa 28 Minuten erzählt Chris Marker mit "La Jetée" eine der eindrucksvollsten Science-Fiction-Geschichten der Filmgeschichte, ohne sich dabei überhaupt an die Regeln der Filmkunst zu halten. Chris Marker arbeitet in seinen Film mit Standbildaufnahmen, welche mittels eines auktorialen Erzählers miteinander verbunden und werden, und so eine Geschichte erzählen (deshalb wurde der Film vielerorts als "Photoroman" bezeichnet). Nur für einen kurzen Moment, nicht länger als fünf Sekunden, bricht Marker aus den selbst statuierten Normen aus und präsentiert uns eine einzige bewegte Einstellung. Phänomenal platziert, in ihrer Wirkung eine Wucht, so eindrucksvoll, dass der Zuseher selbst für einen Moment an seiner Wahrnehmung zweifelt, denn hat sich das Bild nun bewegt oder nicht?

Chris Marker wurde 1921 in Neuilly-sur-Seine bei Paris geboren und studierte während der 30er unter Sartre Philosophie. Bevor er Anfang der 1950er seine ersten Dokumentarfilme produzierte, arbeitete er in erster Linie als Schriftsteller, Kritiker, Journalist und Fotograf. Seine bis heute über 40 Werke umfassende Filmografie besteht vollständig aus Dokumentationen; mit zwei Ausnahmen: "Sans soleil" (1983) und eben "La Jetée". Marker war zu Beginn der 60er mit den Dreharbeiten zu seiner Doku "Le joli mai" (1963 veröffentlicht) in Paris beschäftigt und sei damals, wie er später erklärte, so tief in die Wirklichkeit der Stadt im Jahre 1962 eingetaucht, dass er das "Cinéma vérité" entdeckt habe und an einem Tag, an dem die Filmcrew frei hatte, loszogen sei, um Bilder zu einer Geschichte aufzunehmen, die er, wie er zugab, damals  selbst nicht verstanden habe. Erst durch den Schnitt habe sich das Puzzle "La Jetée" später selbst zusammengesetzt. Heute wird Marker neben Agnes Varda und Alain Resnais zu den wichtigsten Vertretern der Rive Gauche gezählt, welche eine Gruppe von in Frankreich tätigen Regisseuren/innen beschreibt, welche sich parallel zur Nouvelle Vague entwickelt hat und deshalb von vielen als Untergruppe der französischen Neuen Welle betrachtet wird. Worin sich die beiden Bewegungen jedoch unterscheiden, ist die Tatsache, dass die Nouvelle Vague besonders in ihren Anfängen unpolitische Filme drehte, während die Rive Gauche mit Filmen wie "Hiroshima mon amour" (1959) oder eben "La Jetée" auf eben dieser Ebene deutlich Stellung bezogen. Dennoch werden die beiden Bewegungen oft als Einheit betrachtet, so wird  zum Beispiel Varda häufig als "Mutter der Nouvelle Vague" bezeichnet und Resnais als bedeutender Vertreter beider Bewegungen genannt.

Was an "La Jetée" besonders beeindruckt, ist ein gleichermaßen überraschendes Element. Obwohl der Film sowohl durch seine Beschränkung auf Standbilder  als auch durch seinen dokumentarischen Stil zwischen dem Zuseher und dem Geschehen auf der Leinwand eine enorme Distanz erschafft, gelingt es Marker eine interaktive Komponente in seinen Stoff miteinzuweben. Besonders deutlich wird dieser Aspekt des Films beim bereits oben erwähnten Stilbruch, der bewegten Einstellung. In einem Traum des Mannes erscheint die Frau, welche schlafend in ihrem Bett liegt. Durch extrem weiche Übergänge werden einzelne Stills ineinander übergehend verknüpft, wodurch bereits die Illusion einer Bewegung evoziert wird, sodass die Brücke zur tatsächlichen Einstellung kaum bemerkbar angehängt werden kann. In dieser Aufnahme erwacht die Frau aus ihrem Schlaf uns blickt uns frontal entgegen, bevor Marker durch einen (Quasi-) Matchcut zurück zum Photoroman wechselt, das Aufwachen des Mannes andeutend. Das Aufwachen der Frau ist der transzendente Höhepunkt des Films, wohl beabsichtigt nicht ans Ende platziert sondern mehr oder minder die Mitte schmückend. Vielleicht appelliert Marker an den Zuseher; dieser solle selbst die Augen öffnen; vielleicht aber auch drückt die Szene für die Hauptfigur eine Vorahnung bezüglich des Endes aus. Fest steht nur, dass es Marker gelingt, uns an unserer eigenen Wahrnehmung zweifeln zu lassen, was erst beweist, wie tief man trotz (oder vielleicht gerade aufgrund) der untypischen Verwendung der Standbildaufnahmen in der Geschichte des Films eintaucht, sodass die eigene Vorstellungskraft mithilfe des Voice-over-Kommentars als Lückenfüller zwischen den Bildern fungiert. "La Jetée" ist in dieser Form einzigartig, und wird es wohl ewig bleiben, da eine Rekonstruktion dessen, was Chris Marker hier als Verarbeitung eines Impulses geschaffen hat, sich unmöglich noch einmal nachfühlen lässt.