Montag, 7. März 2011

After the eclipse...

Werckmeister harmóniák 
Werckmeister Harmonies
Die werckmeisterschen Harmonien
(Béla Tarr, 2000)

In einem kleinen Dorf inmitten der ungarischen Einöde fordert ein bitterkalter Winter seine Opfer. Die ansässigen Leute sind arm, die Stromversorgung droht wie auch die medizinischen Mittel zusammenzubrechen, der Kohlenvorrat geht zur Neige, der Frust sitzt tief. Als  eines Nachts ein slowakischer Wanderzirkus den Dorfplatz besetzt, um seinen gigantischen ausgestopften Wal und einen obskuren Prinzen zur Schau zu stellen, macht sich unter den Dorfbewohnern Unmut breit, scheinbar resultierend aus der Anwesenheit der ungebetenen Gäste. Nur einer reagiert mit Neugier auf die Fremden, János (Lars Rudolph), so sein Name, ist ein verträumter junger Mann, befreit von jeder Sorge und jeglicher Befangenheit. Er ist der einzige, der keinen Hass gegen den eigenartigen Wanderzirkus in sich spürt, zu immens ist seine Faszination für das ausgestellte Geschöpf. Er versteht die gewaltbereite Aversion seiner Mitmenschen gegenüber den Fremden nicht, besonders die Antipathie dem Meeressäuger gegenüber leuchtet ihm nicht ein, denn er selbst sieht in ihm eine eindrucksvolle Laune der Natur, eine faszinierende Schöpfung Gottes. Doch der Unmut der anderen Dorfbewohner verstärkt sich weiter, bis er in einer Eruption der Gewalt zu gipfeln droht.

Béla Tarrs "Werckmeister Harmonies" basiert auf dem 1989 erschienen Roman "Melancholie des Widerstandes" des ungarischen Autors László Krasznahorkai, der sich für Tarrs Adaption bereit erklärte, das Drehbuch zu verfassen. "Werckmeister Harmonies" bildet den siebten Film der bis heute neun Spielfilme umfassenden Filmographie Tarrs. Zuvor machte er sich besonders durch sein 7½-stündiges Epos "Sátántangó" ("Satan's Tango", 1994), ein Portrait einer zusammenbrechenden ungarischen Kolchose kurz vor dem Kollaps des Kommunismus, einen Namen als wagemutiger Regisseur, der weder Mühen scheut noch erschwerenden Umständen bei den Dreharbeiten aus dem Wege geht. Ein Ruf, dem der Ungar auch in "Werckmeister Harmonies" gerecht wurde, auch wenn dieser nur etwa eine Länge von 2½ Stunden aufweist, doch sein in 39 eindrucksvoll lang gezogenen Einstellungen aufgeteilter Film besticht besonders durch seine feinfühlig präzise Kameraführung und die - für Tarr typische - konsequente Verwendung von Schwarz-Weiß-Film.

"Werckmeister Harmonies" ist ein Film gespickt mit Metaphern und Allegorien, in seinen Bildern und seinem Ausdruck expirimiert. Bereits im Prolog verwendet János taumelige Trunkenbolde, um eine Sonnenfinsternis nach dem kopernikanischen Modell darzustellen, erläuternd, dass im Moment der totalen Finsternis ein kurzer Zeitpunkt der Ungewissheit herrscht, ein flüchtiger Moment der Unordnung, der Entropie, der allerdings mit der Wiederauferstehung der Sonne ein jähes Ende findet. Das Motiv der Sonnenfinsternis findet sich während des gesamten Films wieder, besonders wenn man "Werckmeister Harmonies" als Metapher für die Geschichte Ungarns der letzten 60 Jahre interpretiert, das sich während dieser Periode zwischen den Fronten der stalinistischen Sowjetunion und des faschistischen Deutschen Reichs befand und von beiderlei bleibend geprägt wurde. Als Sinnbilder für Hitler und Stalin kommen einige Figuren in Frage, wie zahlreiche Reviews beweisen, doch die eigentlich tragische Figur des Films - neben dem Träumer János - ist eine tote: Der Wal. Er dient als Metapher für das Übernatürliche, für Gott, für einen toten Gott um genau zu sein, wodurch sich ein Bezug zu Nietzsche herstellen lässt, der im 125. Aphorismus seines Werks "Die fröhliche Wissenschaft" schrieb: 
"Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet."
Und obwohl die göttliche Figur in "Werckmeister Harmonies" tot ist, strahlt sie eine gewisse Faszination aus, vielleicht auch deshalb, weil sie sich im Inneren eines  Traktor-Anhängers befindet, im Grunde nie zu sehen ist, sprich, nur hinter einer Fassade existiert. Diese Fassade trägt zum Mysterium des Wals bei. Ein Umstand der mit fortwährender Dauer des Films an Bedeutung gewinnt und in der Schlussszene in einem wundervoll emotional inszenierten Moment gipfelt. Die Referenz an Nietzsche ist auch gar nicht so weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass Béla Tarrs aktuellster Film "A torinói ló" ("The Turin Horse", 2011) auf einer Episode aus Nietzsches Leben in Turin aufbaut.

Eine weitere bedeutende Rolle spielt die titelgebende Werckmeister-Stimmung, die im späten 17. Jahrhundert eingeführt wurde und das Spiel zahlreicher Instrumente revolutionierte. Im Film wird die Wohltemperierte Stimmung, wie sie häufig genannt wird, vor allem kritisiert, da ihre Einführung eine Störung der natürlichen Tonreihe zur Erweiterung der musikalischen Ausdehnung bedeutet hätte. Und auch die Zerstörung des Natürlichen, um daraus einen Nutzen zu ziehen, findet sich im Film wiederholte Male, am deutlichsten wohl abermals im ausgestopften Wal.

Wundervoll untermalt vom Score Mihály Vígs erzählt Béla Tarr in seinem Film eine allegorische Geschichte, die eine ganze Reihe an Deutungen ermöglicht und einen beim ersten Mal wohl weitgehend ratlos zurücklässt. Doch wie nach einer Sonnenfinsternis wird nach und nach alles erhellt, und man erkennt, wie phänomenal tiefgründig und wichtig Béla Tarrs "Werckmeister Harmonies" wirklich ist.

6 Kommentare:

  1. Da stellt sich mal wieder die Frage, wie man sich einen solchen Film entgehen lassen konnte. Scheint ein Muss für mich zu sein und wird bei nächster Gelegenheit besorgt. Danke für deine Besprechung!

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  2. @ Keyzer: Danke! :)

    @ Whoknows: "Werckmeister Harmonies" ist tatsächlich ein Must-See. Ich muss mir nun selbst die Daumen drücken, dass "The Turin Horse" im örtlichen OV-Kino gezeigt wird. ;)

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  3. Vielen Dank für den schönen Text. Zufällig lag die DVD schon 4 oder 5 Wochen bei mir rum, und deine Besprechung war der Anlass, dass ich mir den Film am Wochenende angesehen habe.

    Und was für ein Film! Schon die "Sonnenfinsternis" hat mich hypnotisch hineingezogen, und die passende abschließende Klammer bildet die todtraurige und zum Heulen schöne Schlussszene. Und dazwischen Sequenzen von mizoguchiesker Schönheit. Die langen, langsamen, aber flüssigen Kamerafahrten haben mich auch etwas an Dreyers VREDENS DAG erinnert.

    Natürlich lädt der Film zu mancherlei Interpretationen ein. Mir kam z.B. auch der Gedanke, dass Tünde, durch die enge Beziehung zu Polizei und Militär, für die Macht im Staat schlechthin steht, während György, der Gelehrte im Elfenbeinturm, den Geist repräsentiert, und wenn er seine kurze Ehe als Fehler bezeichnet, für den er jetzt noch (und vielleicht immer) bezahlt, dann wäre das eine Kritik daran, dass sich der Geist der Macht andient. Natürlich spuckt Tarr solchen und anderen Interpretationen ein bisschen in die Suppe, wenn er im Interview erklärt, dass er nie allegorische Filme dreht. Wollen wir ihm das glauben? Vielleicht sollten wir ihm die Deutungshoheit über seinen Film aberkennen ...

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  4. Schöne Besprechung eines starken Films, aus dem man so einiges rausholen kann. Béla Tarr ist für mich seitdem ohnehin ein äußerst faszinierender Regisseur, der mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihm, meinem Eindruck nach, zuteil wird.

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  5. @ Manfred Polak: Freut mich, dass ich dich zur Sichtung animieren konnte und dir "Werckmeister harmóniák" gefallen hat.

    Dein Gedanke bezüglich Tünde schoss mir auch durch den Kopf. Ihr Part im Film ist generell größer als er auf ersten Blick scheint, wenn man zum Beispiel auch an die Szene denkt, in der sie einen deutschen Offizier umgarnt. Györgys Rolle wiederum weiß ich so gar nicht einzuordnen, auch wenn mir dein Ansatz sehr gefällt. Mir scheint vor allem, dass die letzten beiden Szenen noch um einiges mehr an Bedeutung beinhalten, als es mir bis dato bewusst ist, besonders im Hinblick auf György. Doch um das vollends zu verstehen, muss ich mir den Film wohl noch einige Male ansehen.

    Dass Tarr behauptet, keine allegorischen Filme zu machen, habe ich auch schon gelesen, wobei ich glaube, dass eine derartige Aussage nur dazu dient, lästigen Fragen auszuweichen. Wenn ich mich recht erinnere, hat Andrej Tarkovskij in Verbindung mit "Stalker" Ähnliches behauptet, und dem schenke ich ebenso wenig Beachtung. Aber vielleicht will ich mir auch nur dieses Gefühl nicht nehmen lassen, mir über die Filme der beiden - mit Genuss - den Kopf zu zerbrechen ;)

    @ miseencinema: Vielen Dank! Kann dir nur zustimmen, bin selbst unheimlich fasziniert von Tarr. Schade wäre, wenn "The Turin Horse" tatsächlich sein letzter Film sein würde, wie er vor kurzem auf der Berlinale behauptet haben soll.

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